Richtiges Lesen, falsches Zelt

Zen und Rock: Wiglaf Droste empfing Benjamin von Stuckrad-Barre in der Volksbühne

Ein tiefer Friede lag über der Volksbühne an jenem Abend, als der Sommer begann und die ganze Stadt sich bei nächtlichen dreißig Grad auf den Konzerten der Fête de la Musique zu amüsieren schien. Mauerpark, Görlitzer Park, Pfefferberg – ein Tanzvergnügen, Trinkvergnügen, scheinbar ein einziges, großes Glück. Und die, die in die Volksbühne gekommen waren, zu Wiglaf Drostes Benno-Ohnesorg-Theater mit Herrn Stuckrad-Barre als Gast, hatten irgendwie das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Doch „es gibt ein richtiges Lesen im falschen Zelt“, wie wir später von Stuckrad-Barre erfahren dürfen, und deshalb bleibt man also sitzen und hört zu. Und sieht zu. Wie der Frieden, das große Geltenlassen, die Gelassenheit und die Erleuchtung auf die Bühne kommen. Und sie kommen. Zunächst nur der eine. Der Zen-Meister. Droste. Er tritt im roten Bademantel auf. Barfuß. „Der letzte Satz des neuen Romans wurde gestern geschrieben, die neueste CD ist eingespielt, heute ist der letzte Auftritt der Saison.“

Wir müssen uns Droste als einen erleuchteten Menschen vorstellen, einen inneren Friedensbringer. Nur eine Sache ist noch zu klären, vor dem Sommer. Die Barfußfrage. Kollege Michael Ringel habe da auf der Wahrheitseite so eine fragwürdige Kampagne gegen Barfußgänger gestartet, eine Art Fatwa gegen Sockenverächter, die er, Droste, heute vor großem Publikum mal zurechtrücken müsse, um eine Lanze für die Barfußgeher zu brechen. Die bricht er dann also durch seinen persönlichen, barfüßigen Auftritt, durch den Hinweis auf eine empfehlenswerte Bratwurst aus dem Westfälischen, die auch „Barfuß“ heiße, und dadurch, dass er seinen jungen Kollegen, der kurz nach ihm, ganz in Himmelblau (allerdings nicht im Bademantel, sondern im feinen Stoff) auftritt, auch zu einem Barfußleser machte. Und Barfußlesen, das ist eine Art von Glück. So scheint’s. Droste liest ein paar sehr schöne Klassiker, „Zen-Buddhismus und Zellulitis“ und vom Allerweltsärgernis „junger Mann“ – der Altmeister will die Gelegenheit nutzen, da heute, aufgrund des Gastes, so viel Jungleservolk gekommen ist, auch die eigene Leserschaft dauerhaft zu verjüngen. „Oder sind etwa Greise im Publikum?“

Wir, Publikum, werden ausgeleuchtet. „Nein, keine Greise.“ Gut, so fährt er fort. Benjamin von Stuckrad-Barre liest keine Klassiker, sondern Texte über das Ausscheiden von Erichs elf hängenden Spitzen, von Jenny Elvers Wochenendeskapaden im Adlon und ihrer Wespenallergie, von seinem Auftritt bei „Rock am Ring“, wo der Popliterat sich auch als Rockliterat versuchen wollte.

Das ist leider misslungen, wenn wir das richtig verstanden haben. Doch die Chancen, ein richtig guter Zen-Literat zu werden, die sind an diesem schönen Sommerabend viel größer geworden. VOLKER WEIDERMANN