Konsens aus Koalitionsräson

Eine Ablehnung des Atomkonsenses hat kaum Chancen. Wenn es um die Koalition ging, hat die Partei immer überraschende Geschlossenheit gezeigt

von MATTHIAS URBACH

Wenn die erste Enttäuschung überwunden ist, kann man sich mit so manchem arrangieren. Der anfängliche Schock will freilich überwunden sein. Und dafür braucht man eine Politikerin wie Antje Radcke. „Ich finde das Verhandlungsergebnis inakzeptabel“, hatte die Grünen-Sprecherin erklärt – und damit ausgesprochen, was wohl die meisten Grünen, Linke wie Realos, gedacht haben müssen, als sie zum ersten Mal von dem Verhandlungsergebnis erfuhren.

32 Jahre Laufzeit hatten die Stromversorger bekommen, mehr als die Bundesregierung nach eigenem Bekunden per Gesetz hätte erzwingen können. Die Konzerne bekamen außerdem die freie Auswahl, mit welchem Meiler sie welchen Anteil ihres Stromkontigents erzeugen wollen, ohne eine besondere Gegenleistung erbringen zu müssen. Nicht einmal mussten sie versprechen, zum Ausgleich dafür, dass einige Reaktoren nun weit länger als 32 Jahre Atomkerne spalten dürfen, andere besonders unsichere frühzeitig vom Netz zu nehmen. Vielleicht schon vor der Wahl.

Wenn der Schock erst überwunden ist, dann stört so eine Politikerin wie Antje Radcke. Weil sie auch am nächsten Tag noch zu derselben Meinung steht und sich öffentlich fürchtet, dass der Atomkonsens einen Teil der Linken aus der Partei treiben könnte. Das geht zu weit. „Mein Verständnis hört auf“, donnerte etwa Rezzo Schlauch mehrfach, „wenn eine Vorsitzende in so einer Frage die Spaltung herbeiredet.“ Eine Ablehnung des Atomkonsenses würde die Koalition gefährden, hämmern die Befürworter den Parteimitgliedern seit einer Woche ein. Womit sich – ganz nebenbei – die eigene Unzufriedenheit über das Erreichte vortrefflich überspielen läßt. Denn wenn die Koalition auf dem Spiel steht, liegt viel mehr auf der Waagschale – wer kann dazu noch Nein sagen?

Und so wird der Atomkonsens auf dem Grünen-Bundesparteitag am Wochenende vermutlich durchgehen. Nicht zuletzt, weil sich im Laufe der Woche auch prominente Wortführer der Linken wie der Abgeordnete Christian Ströbele und Hamburgs Umweltsenator Alexander Porschke von Radcke abgewandt haben und ohne sie einen Antrag formulierten, der den Konsens nicht mehr in Bausch und Bogen ablehnt, sondern durch Nachverhandlungen ergänzen will. Sie verlangen, dass noch vor der Wahl ein Meiler vom Netz geht. Diejenigen, die auf Kampf setzen, wie die 110 Grünen um die Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach und die Europaparlamentarierin Hiltrud Breyer, werden in der Minderheit bleiben.

Eine harsche Ablehnung hat ohnehin kaum Chancen. Wenn es um die Koalition ging, hat die Partei noch immer überraschende Geschlossenheit bewiesen. Und wenig überzeugend sind die Versuche von Ströbele und Porschke, darzustellen, dass die Forderung nach Nachverhandlungen die Koalition nicht aufs Spiel setzen. Schließlich käme dies einem Misstrauensvotum gegen ihren Unterhändler in den Konsensgesprächen, Jürgen Trittin, gleich. Das Mindeste, was sie riskieren, ist, dass ihnen auch das wenige im Konsens Erreichte noch zwischen den Fingern zerbröselt, falls der Parteitag Nachverhandlungen beschließt. „Es gibt nur diesen Ausstieg“, formulierte das Trittin, „oder keinen“.

Vielleicht verstellt auch die Geschichte dieses Konflikts den Blick. Denn aus dem Ausland lassen sich überwiegend begeisterte Stimmen der grünen Schwesterparteien hören. Und so sind auch die Umweltverbände nicht einer Meinung. Während der WWF mit dem Konsens zufrieden ist, halten zwar Greenpeace, BUND und Nabu den Konsens für ziemlich dünn. Doch nur Greenpeace und der BUND empfehlen eine Ablehnung. „Ich wünsche mir“, sagt Nabu-Präsident Jochen Flasbarth, „dass man das wenige, das man erreicht hat, nicht auch noch aufs Spiel setzt.“

Keine Frage: Die Grünen hätten sicher besser verhandeln können. Klar ist aber auch, eine Lösung im Konflikt mit der Industrie wäre mit Kanzler Gerhard Schröder niemals durchzuhalten gewesen. Das Paradox: Gerade die überzogenen Erwartungen an einen Ausstieg zu Beginn der Koalition, die Unterschätzung der gesellschaftlichen Gegenkräfte waren der Grund für den eher unbefriedigenden Atomkonsens. Der daraus folgende Streit über eine vorgezogene Atomnovelle, die Trittin fast das Amt gekostet hätte, vereitelten eine wirkliche Konfliktfähigkeit am Schluss.

Dennoch ist der Atomkonsens eine historische Zäsur. Für die Grünen ist der Ausstieg eines der wichtigsten Themen. Es hat aber auch immense Kräfte gebunden und verschlissen. Viele haben vom Thema die Nase voll. Umweltpolitiker Winfried Hermann musste bereits feststellen, dass schon auf den drei grünen Diskussionenveranstaltungen, die er diese Woche zu verschiedenen Themen bestritt, keiner nach dem Atomausstieg fragte. „Das war wirklich erstaunlich.“

Es klingt so schön kämpferisch, wenn Renate Künast, designierte Parteisprecherin, sagt, dass uns „niemand hindert, den Druck so zu erhöhen“, und dass so den Stromkonzernen weitere Zugeständnisse abgetrotzt werden könnten. Wahrscheinlicher ist aber, dass das öffentliche Interesse nun schnell abklingen wird. Was dann?

Dann wären eigentlich wieder Kräfte frei, um grüne Umweltbelange anzugehen. Noch immer wird den Grünen beim Umweltschutz die höchste Kompetenz attestiert. Doch manche Grünen würden sich am liebsten ganz von Ökothemen lösen, mit denen man anecken kann. Symptomatisch war der Versuch von Fraktionschef Rezzo Schlauch, mit der vermeintlichen grünen Verteufelung des Autos zu brechen und vom Auto als „Instrument der Freiheit“ zu sprechen. Da platzte sogar dem sonst so gemäßigt auftretenden Realo Reinhard Loske der Kragen. „So redet nicht einmal mehr der ADAC.“ Schlauchs provokante Äußerung bescherte der taz deutlich mehr Leserbriefe verstörter Grünen-Anhänger als nun der Atomausstieg.

„Ein Teil der Modernisierer hat die Ökologie zum Loser-Thema erklärt – und das ist grottenfalsch“, klagt auch Ralf Fücks, Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Tatsächlich beschäftigen sich schon wieder die Wissenschaft und das FAZ-Feuilleton mit den Folgen von Bio- und Computertechnik für Mensch und Umwelt. Doch bei den Grünen gilt das als olle Kamelle, traut sich kaum noch jemand, ein Umweltthema zu präsentieren, ohne dessen Nutzen für die Wirtschaft zu betonen und Jobs zu versprechen.

Aber es ist fraglich, ob die Grünen sich einen Gefallen tun, wenn sie zu sehr auf ihre Profilierung in anderen Themen wie der Steuerpolitik setzen. Zwar finden Oswald Metzger und Christine Scheel viel Beifall dafür, doch manchen schwant, dass die, die da loben, die Grünen nicht wählen.

Diejenigen, die bislang zu den Grünen halten, sind dagegen zunehmend irritiert. Wofür stehen eigentlich die Grünen? „Auf diese Frage“, sagt Antje Radcke, „ erntet man inzwischen selbst bei Grünen langes Überlegen und Schulterzucken.“ Darauf nach dem Atomkonsens eine befriedigende Antwort zu finden, könnte eine größere Herausforderung werden als der Ausstieg selbst.