Lumumbas Auferstehung

Belgien rollt eine düstere Episode seiner Geschichte auf: Die Ermordung des Kongolesen Patrice Lumumba. Vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit wirft der Mord seinen Schatten auf die Krisen des Kongo

von DOMINIC JOHNSON
und FRANÇOIS MISSER

Es ist eine der großen tragischen Geschichten der Entkolonisierung. Am 30. Juni jährt sich die Unabhängigkeit des einstigen Belgisch-Kongo zum vierzigsten Mal, und ebenso lange zieht das Land, das danach erst Kongo hieß, dann Zaire und heute wieder Kongo, Krisen und Kriege an sich. Wie kein anderes Ereignis ist die Ermordung des ersten Premierministers des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba, am 17. Januar 1961 zum Gründungsakt des krisengeschüttelten modernen Kongo geworden.

Alle Politiker des Landes berufen sich auf den großen Vorgänger. Keiner von ihnen reicht jedoch in der Wertschätzung der Kongolesen an ihn heran. Sie alle, von Mobutu bis Kabila, spielen die Wirren nach, an denen Lumumba zugrunde ging. „Die Eliminierung Lumumbas und seine Ersetzung durch Mobutu sind Teil der afrikanischen Geschichte, und das kongolesische Volk zahlt für dieses Verbrechen bis heute“, schrieb kürzlich der belgische Soziologe Ludo De Witte, Autor eines Aufsehen erregenden neuen Buchs über die Todesumstände eines Helden Afrikas.

De Wittes Buch hat geschafft, was Unmengen von Polemiken in den letzten vierzig Jahren nicht erreichten: Die Exkolonialmacht Belgien schämt sich. Eine parlamentarische Untersuchungskommission, beschlossen im Dezember 1999, soll nun den Tod des großen Kongolesen neu durchleuchten.

Die dürren Fakten sind zwar längst bekannt. Lumumba wurde im September 1960 vom Posten des Premierministers entlassen, als sein Land in einen Bürgerkrieg mit mehreren abtrünnigen Regionen geraten war. Am 1. Dezember wurde er von Soldaten unter Führung des späteren Staatschefs Joseph-Désiré Mobutu verhaftet. Lumumba wurde an die probelgische Sezessionsregierung der Südprovinz Katanga überführt und am 17. Januar 1961 erschossen – angeblich auf der Flucht. Die westliche Welt hatte damals ein strategisches Interesse daran, Kongos reiche Bodenschätze nicht in die Hände eines Linksnationalisten wie Lumumba fallen zu lassen. Bekannt ist auch, dass Mobutu für den CIA arbeitete und belgische Soldaten an Lumumbas Eliminierung beteiligt waren. Aber erst De Witte hat jetzt konkrete Hinweise auf Belgiens Mitverantwortung geliefert. Im Mai 2000 wurden die Expertenmitglieder der belgischen Kommission ernannt, im Oktober sollen die Anhörungen beginnen – öffentlich, nicht hinter verschlossenen Türen, wie zunächst von der Regierung angestrebt. Im März 2001 soll Bericht erstattet werden. Doch schon jetzt häufen sich neue Enthüllungen, melden sich Zeugen und Mitwisser zu Wort, die De Wittes Recherchen bestätigen und erweitern.

So packte im Mai in einem Zeitungsinterview der sozialistische Abgeordnete Serge Moureaux aus, Sohn eines belgischen Ministers zu Zeiten von Lumumbas Tod. Sein Vater Charles Moureaux habe ihm gebeichtet, dass Belgiens Kabinett schon sechs Monate vor der Ermordung Lumumbas – also gleich nach Kongos Unabhängigkeit – über die „Eliminierung“ des Nationalistenführers beriet. Ein Szenario: Lumumbas Flugzeug solle einen „Unfall“ haben. Sohn Moureaux schränkt ein: „Das heißt aber nicht, dass die Regierung einen entsprechenden Beschluss fasste. Ich denke eher, dass eine gewisse Anzahl von Personen, darunter der katangafreundliche und den Bergbaufirmen nahe stehende Afrikaminister, sich selbst ermächtigten, eine solche Entscheidung stillschweigend zu treffen.“

Ein wichtiger Zeuge steht nicht zur Verfügung: Louis Marliere, damals Berater Mobutus, starb im Mai. Doch zuvor ließ er sich vom belgischen Fernsehen interviewen und erklärte: „Es gab keine offizielle Direktive aus Brüssel, etwas gegen Lumumba zu unternehmen. Aber es gab Botschaften, an denen wir spürten, dass Brüssel ihn loswerden wollte.“

Was nach Lumumbas Ankunft in Katanga unter den Belgiern dort vorging, beichtete im Fernsehen Jacques Brassine, damals ein Berater des Sezessionistenführers von Katanga, Moise Tshombe. „Wir sind uns ganz sicher, dass er sterben wird, und wir werden stumm bleiben wie Fische“, gibt er die Stimmungslage wieder. Ein anderer Belgier, dem plötzlich peinliche Dinge einfallen, ist Leutnant Claude Grandelet. Er sagt, die belgischen und katangischen Bewacher Lumumbas hätten von Katangas Armeechef – natürlich einem Belgier – den Befehl erhalten, auf die in der Region stationierten schwedischen UN-Soldaten das Feuer zu eröffnen, sollten diese versuchen, den gefangenen Premierminister zu befreien, und im Extremfall Lumumba zu erschießen.

Grandelet äußerte sich in einer TV-Dokumentation, die nachwies, dass die belgischen Berater des Katanga-Führers Tshombe vom damaligen belgischen Afrikaminister Harold d’Aspremont Lynden ernannt worden waren. Dass Lumumba nach Katanga gebracht wurde, sei auf D’Aspremonts Ersuchen bei Tshombe zurückzuführen, so der Fernsehbericht. Mit Spannung darf nun das Studium der bisher gesperrten Akten des Afrikaministeriums erwartet werden. Belgiens König Albert II. hat darüber hinaus die Freigabe „gewisser Dokumente“ aus gesperrten Teilen der königlichen Archive zugesagt.

Warum sind all diese Details so wichtig? Ein Grund ist: Die Enthüllungen über die Rolle Belgiens beim Tod Lumumbas sind zugleich Enthüllungen über die Rolle Belgiens bei der Abspaltung Katangas vom Rest des Kongo. Die Belgier, die die Reden des Katanga-Führers Moise Tshombe schrieben „und die Politik der Sezession strukturierten“, wie Brassine es ausdrückt, waren die heimlichen Herren der Provinz. Bereits vor der Unabhängigkeit war klar, dass Katanga nicht Teil eines von Lumumba regierten Kongo sein sollte. Schon im Januar 1960 drohte Katangas späterer Innenminister Godefroid Munongo dem späteren Premier Lumumba: „Wenn du nach Katanga kommst, kommst du lebend nicht wieder raus.“

Wenn der Zerfall des Kongo nach der Unabhängigkeit auf fremde Machenschaften zurückzuführen ist, können daraus Schlüsse für den heutigen erneuten Zerfall des Landes gezogen werden. Seit zwei Jahren sind verschiedene afrikanische Armeen in unterschiedlichen Teilen Kongos stationiert und plündern sie zum eigenen Profit aus. Ältere kongolesische Zeitgenossen sehen da eine direkte Verbindung. „Der Kongokrieg dauert seit vierzig Jahren an“, sagt der in Deutschland lebende Exilschriftsteller Muepu Muamba. „Wenn man weiß, warum Lumumba ermordet wurde, weiß man, warum der Kongokrieg begann. Lumumbas Ermordung ist der Ausgangspunkt für alles. Aus Sicht der Kongolesen steht Lumumba für die Möglichkeit der nationalen Einheit.“

Andere Kongolesen sind skeptischer. Ein Exilpolitiker, der gerade den Toten des laufenden Kriegs nachforscht, meint lapidar: „Was die Belgier machen, interessiert niemanden in Kongo.“ Ein anderer stimmt zu: „Es bringt uns nichts Besonderes, zu wissen, dass Lumumba ermordet wurde. Die Belgier fühlen sich jetzt schuldig, aber wir können nicht sagen, dass sie jetzt zahlen sollten. Sie können Nein sagen, und wir können sie nicht zwingen.“ Für ihn hat die nationalistische Ideologie Lumumbas ausgedient: „Das Land ist so groß, es kann nicht wie früher zentralistisch regiert werden. Heute gibt es keine Kommunikationsmöglichkeit mehr zwischen den Regionen. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind nicht mehr so wie früher.“

Aber gerade diese Differenzen zeigen: Bei der Lumumba-Untersuchung in Belgien geht es um mehr als um die politische Verantwortung für den Mord. Dem Kongo liefert sie Material zum Nachdenken über die Zukunft. Für Belgien könnte sie den Einstieg in eine Debatte über die Vergangenheit bedeuten: Der extrem blutige Verlauf der belgischen Kolonisierung Kongos wurde dort bisher nur selten thematisiert.

DOMINIC JOHNSON ist taz-Afrikaredakteur, FRANÇOIS MISSER freier Journalist in Brüssel.