„Danke Florian“

Goldene Zeiten für Literatur (IX): Auf der Suche nach der eigenen Biografie – der neue deutsche Leser schreibt im Internet

■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von VOLKER WEIDERMANN

Leser! Käufer! Es geht um dich! Um dein Leben. Und dein Lesen. Es geht um Bücher, die du liest und denkst: „Ich bin drin! Es geht um mich!“ Und nicht um Literaturkritiker, nicht um Deutschlehrer, Germanistikprofessoren, Nörgler und Experten. Wer bist du, Leser? Durs Grünbein hat am Samstag in der FAZ die Suche aufgegeben: „Nein, ich kenne es nicht, das Publikum“, schrieb er und beschäftigte sich daraufhin lieber mit der Frage „ob man sich selbst eigentlich kennt“.

Die Antwort darauf wissen wir nicht. Dafür ist die Frage nach dem Publikum seit einiger Zeit wenigstens teilweise zu beantworten: Auf den Homepages der Internetbuchhandlungen von amazon.de, bol.de und buchhandel.de. Klick: Leserrezensionen. Hier ist es, das Publikum. Hier schreibt der Leser. Über 1.000 Leserrezensionen gehen allein bei amazon.de pro Woche ein. Amazon druckt alles, unkorrigiert, nur „Obszönitäten und gehässige Bemerkungen“ werden gelöscht.

Natürlich ist das nur ein Ausschnitt aus dem Leserkreis. Und natürlich hat auch Joachim Bessing mit seinem Misstrauen recht, wenn er in „Tristesse Royale“ verkündet, dass er selbst schon so viele gefälschte Leserrezensionen abgesandt hat, dass er ihnen überhaupt nicht traue. Aber so viele Fälscher gibt es wohl nicht, als dass hier ein komplett falsches Bild entstünde. Außerdem müssen wir nach ausgiebigstem Leserrezensionslesen sagen: Wenn vieles gefälscht ist, dann ist es zumindest sehr gut gefälscht. Wir behaupten hier jetzt einfach, das Publikum zu kennen. Das Publikum der neuesten deutschen Literatur:

Es ist, knapp beschrieben, auf der Suche nach sich selbst, nach dem eigenen Standort in der Welt, nach einer Gemeinschaft, einer Zugehörigkeit oder nach Abgrenzung von einer Gruppe, einer Generation, ist auf der Suche nach Erinnerungen an die eigene Vergangenheit und nach Begriffen, die das eigene Leben gültig beschreiben. Das junge deutsche Lesepublikum ist, um hier noch mal ein Durs-Grünbein-Wort zu nutzen: „identifikationssüchtig“. Süchtig nach Identifikation mit dem Autor und der Welt, der man sich im Buch als die eigene versichern kann.

„Einer von uns“

Das größte Glück im Buch ist das Auffinden von Wirklichkeit, von der eigenen Wirklichkeit, einer Weltbeschreibung, die das Vokabular, die Texte der eigenen Generation benutzt: „Endlich jemand, der uns wirklich versteht – einer von uns.“ (anonym, Bonn, 29. 5. 00 zu „Generation Golf“ von Florian Illies). Und: „Zunächst ist der Ansatz der Fünf zu loben, einmal das Hier und Jetzt durchzuscannen. Auch die Unterpunkte sagten mir zu, spiegeln sie doch tatsächlich alle meine PROBLEME (Werbung, Überziehungskredit, Pop, Altern, Sinn des Lebens, etc.) (akbehren@aol.com zu „Tristesse Royale“ von Joachim Bessing et. al.). Und: „Der Leser erkennt sich so wunderbar wieder im Buch. Darum gefällt es nämlich so. Darin liegt das Geheimnis.“ (Anonym zu Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“.) Und Julia-Katrin Maurer schrieb am 1. 4. über „Crazy“ von Benjamin Lebert: „Das beste Buch, das ich je gelesen habe. Das Buch entspricht voll der Wirklichkeit, und das finde ich toll, denn meist sind die Bücher der Realität fern.“

„Nicht authentisch“

Doch ebenso groß wie die Begeisterung über authentische Wirklichkeitsbeschreibungen ist auch die Empörung, wenn die beschriebene Wirklichkeit bezweifelt wird. „Big Dick“ schreibt zu „Crazy“: „Schrottbuch. Da ich selbst Internatsschüler war und das Internat, auf dem Herr Lebert war, kenne, es spiegelt kein bisschen das Leben in einem Internat wieder ... Dieses Buch ist nicht authentisch, sondern ein Internatsleben, wie man es sich vorstellt.“ „Tenor“ bestätigt das: „Es trifft überhaupt nicht auf wirkliche Erlebnisse von Jugendlichen heutzutage zu. Lebert ist wahrscheinlich ein totaler Langweiler.“

Das soll ich sein?

Größer ist der Ärger noch, wenn die Menschen- und Generationsbeschreibung mit dem Alltag des Lesers nicht übereinstimmen will. Vor allem Alexa Hennig von Langes „Relax“ ruft Empörung hervor: „Soll ich mich jetzt porträtiert fühlen, oder was?“, fragt Ivan@theunicorn.de aus Kaarst. Gonzi_15@hotmail.com staunt: „Soll irgendwie meine Generation sein, hab ich mir sagen lassen.“ Und turval@yahoo.de schreibt: „Ich habe die jungen Leute dieser, meiner Generation nicht so erlebt und kennen gelernt, wie sie mir in „Relax“ präsentiert werden.“ Über „Crazy“ klagt einer: „Kenne keinen Menschen, der sich in unserem Alter so viel Gedanken über den Sinn des Lebens usw. macht.“ Und der „Generation Golf“ wirft rgerdes@rumms.-unimannheim.de vor: „somit hat er wohl einen großen Teil der fragenden Generation, nämlich die, die aus nicht so heilen Familien und Großstädten stammen, wohl etwas vergessen. Schade.“

Abgrenzung

Ja. Schade. Manche sind jedoch geradezu glücklich, in diesen Büchern nicht vorzukommen: „Ich bin froh darüber, ein anderes Leben zu führen“, schrieb eine Leserin aus Münster am 25. 11. 99 zu „Relax“. Oder wampfler@smile.ch lobt zwar Judith Hermanns „Sommerhaus später“, fragt sich aber auch: „Ist der Alltag von Judith Hermannn ein anderer als derjenige ihrer zehn Jahre älteren Mitmenschen?“ Es geht auch um Abgrenzungskriterien in der Literatur. Zu Elke Naters „Königinnen“ und Julia Francks „Liebediener“ heißt es häufig, das sei ein Buch für Frauen. Nur Frauen könnten es wirklich verstehen (Leserin aus Bonn: „Absolut entlarvend. Jede Frau kann sich wohl mit den Hauptdarstellerinnen und ihren täglichen Abenteuern identifizieren.“) Ähnliches wird auch gerne über DDR-Erinnerungen geschrieben, über Ingo Schulzes „Simple Storys“ und Thomas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ etwa. Urteil: „Nur für DDR-Kenner verständlich.“ Für uns. Und nicht für euch.

Entgrenzung

Oder umgekehrt. Ehrlich gesagt wird das sogar häufiger behauptet: Dass gerade die Literatur von dem Anderen – von Frauen, von Jungs, Ossis, Wessis, einer anderen Generation, Verständnis schafft. Durch Begriffsbildung, Begriffsfindung und Nachvollziehbarmachen: „Brussig hat es geschafft, die täglichen Probleme und Nöte Jugendlicher in der ehemaligen DDR zu definieren“, (mike.fiebiger@gmx.net). Und jemand aus Berlin schreibt zu „Sonnenallee“: „Das Buch schafft die Grundlage zum Austausch mit ‚Nicht-Kennern‘“ der DDR. Und „Generation Golf“ schließlich preist ein Herr aus Bonn als „eine Pflichtlektüre für alle, die uns verstehen wollen, weil sie mit uns leben müssen.“

Erinnerung, Melancholie

Andere Welten werden verständlich, mitteilbar, auf Begriffe gebracht. Auch frühere Welten, Vergessenes. Ein Gefühl von Jungsein. Vergangenheit. Wie viele Internet-Leserrezensenten freuten sich Elke-Heidenreich-artig über Benjamin Leberts Internatsbeschreibung. So wie marcelstrerath@hsh-Radio.de aus Korschenbroich: „Als ich das Buch innerhalb von 5 Stunden gelesen hatte, musste ich 3 x weinen und ich weiß nicht wie oft an meine Kindheit denken wie die war und wie gerne ich noch mal da sein möchte, allerdings auch wie beschissen sie war.“ Beim Lesen einer Erzählung Eckhart Nickels aus „Mesopotamia“ (hrsg. von Christian Kracht) erinnert sich ein Leser im November 1999 „an Dinge, die ich schon lange vergessen geglaubt hatte: Lange Strandwanderungen an der Nordsee, mit dem Hund spielen, im Frühjahr dann Großreinemachen.“ Und in manchen Büchern findet sich scheinbar sogar das ganze eigene Leben: „Falls ich mal Tagebuch schreiben möchte, kann ich im Jahr 2000 beginnen, die Jahre davor sind schon in diesem Buch enthalten“, erklärt gmklepper@t-online.de aus Wiesbaden zu „Generation Golf“. Und irgendjemand aus Tübingen schrieb am 20. Mai 2000: „Danke Florian . . .Für ein paar vergnügliche Stunden der Rückbesinnung auf meine eigene Jugendzeit. Sie war haarscharf so wie du sie beschreibst.“

Fantum

Aber: „Danke Florian“ ist ja noch gar nichts. Wir wussten ja schon, dass der junge deutsche Literat, die junge deutsche Literatin Popstars sind. Aber dass es so weit geht: „Ich glaube, ich möchte Kracht und Nickel heiraten.“ Oder: „Ist der Chrischi vielleicht süß (bei den grünen Augen braucht er wahrscheinlich wirklich eine MP, um sich solche wie mich vom Leib zu halten)“, heißt es von drwfunk@hotmail.com. Meike aus Münster sehnsüchtelt: „Ich habe ‚Crazy‘ schon sechs Mal gelesen und würde Benjamin gerne mal kennen lernen!!!!!!!!!!“ Und Andrea Wiegele schreibt über Benjamin Lebert: „Ich kann mir auch denken, dass der Autor nett ist.“ Und Stuckrad-Barre kann sich vor Liebesgrüßen ja ohnehin nicht retten.

Selbstvergewisserungsbuch

So ist es also, das Publikum der neuen deutschen Literatur: Es sucht sich selbst im Buch. Und findet sich. Sich selbst und seine Welt. Und es verehrt den, der sie alle da scheinbar mit hineingeschrieben hat in sein Buch, der ihre Möbel kennt und nennt, die Werbetexte, die ihren Alltag bestimmen, die Musik, die Farbe der Telefonzellen und so. Der einen Text geschrieben hat, der ihren eigenen Alltag benennbar und nachvollziehbar macht, einen Text von einer Alltagswelt, in die man seine eigene Biografie nahtlos einfügen kann. Der oft gehörte Vorwurf, ein Gefühl der Ausgrenzung durch Schnöseltum, Markenfetischismus zu erzeugen, spielt bei den Internetrezensenten fast keine Rolle. Der Leser der jungen deutschen Literatur ist auf der Suche nach einer virtuellen Lesegemeinschaft, in der er sich seiner selbst und seines Standorts in der Welt vergewissern kann. Der junge Leser findet sich. Der ältere Leser staunt.

Und eine, eine einzige, hat noch diese Meinung: „Es ist doch keine literarische Leistung, Inhalte aufzuschreiben, die den Alltag der Jugend von heute zeigen“, schreibt heike@rapzap.de zu „Mai 3D“ von Alexa Hennig von Lange u. a. Nein? Ist es nicht? Unter den Lesern, den Internetrezensenten steht sie mit dieser Meinung alleine da. Die Frage spielt ganz einfach keine Rolle.