„Das System gleicht einer Wanderdüne“

In Berlin hat Justizministerin Däubler-Gmelin Experten aus Politik, Justiz und Medien zur zweitägigen Tagung „Hass im Internet“ zusammengetrommelt. Kriminologe Bernd Wagner kämpft seit Jahren gegen rechte Parolen im Netz

Bernd Wagner, Diplomkriminalist, beobachtet seit 1987 die ostdeutsche Neonazi-Szene. Der 44-Jährige war Leiter des Staatsschutzes der letzten DDR-Regierung. Heute führt er das Berliner „Zentrum Demokratische Kultur“ und wertet rechte Websites aus.

taz: Auf rechtsextremen Seiten wird heute offen zu Mord aufgerufen. Hat der Rechtsextremismus durch das Internet eine neue Qualität erfahren?

Bernd Wagner: Durchs Internet sind Leute mit rechtsextremen Inhalten vertraut, die vorher keinen Zugang zum Milieu oder Berührungsängste hatten. Da ist unzweifelhaft ein anderer Verbreitungsfaktor gegeben. Ob der Aufrufe fühlen sich Leute zu Gewalttaten ermutigt, ohne dass Außenstehende einen Zusammenhang zu den Internet-Seiten vermuten würden.

Nutzen rechte Kader das Netz denn zunehmend zur Mobilisierung ihrer Fußtruppen?

Das Internet bietet gewisse Vorteile: Der Koordinierungsaufwand ist relativ gering, dennoch ist es sehr effizient. Auf Seiten der NPD gab es Mobilisierungsversuche, etwa zum „Tag des Nationalen Widerstandes“ in Passau. Ich sehe da momentan keine organisationsübergreifende strategische Bündelung, höchstens punktuell.

Besteht ein Zusammenhang zwischen rechten Internet-Aktivitäten und dem Wandel der Szene, die versucht, durch lose Strukturen Verboten zu entgehen?

Ich würde keinen direkten Zusammenhang zu den Verboten sehen. Die Rechtsextremisten schauen seit Jahren auf die neuen Medien. Lange vor allen anderen Gruppen waren sie im Internet präsent. Auch bei den Vorläufern, den Mailboxen, waren sie am Ball. Kenner der Szene haben das früh gesehen.

Warum haben Politik und Justiz nicht früher reagiert?

Die haben einfach nicht die Kapazitäten entwickelt. Zudem gleicht das System einer Wanderdüne: Seiten werden herausgenommen, andere kommen hinzu. Die Urheber sind meist Einzelpersonen, aber auch Organisationen wie die NPD. Da ist viel Wildwuchs, trotz ideologischer Eindeutigkeit. Wenn die Inhalte in Deutschland eingestellt wurden, sind sie in der Regel strafrechtlich clean, gerade bei der NPD. Anders ist es, wenn die Urheber ins Ausland gehen.

Was halten Sie von einem Verhaltenskodex für Anbieter?

Eine Selbstverpflichtung könnte einerseits beinhalten, keine rechten Seiten ins Internet zu stellen. Andererseits könnten die Provider eine Kontrolle ausüben und Kunden auffordern, solche Seiten herauszunehmen. Für die Provider ist das natürlich eine ökonomische Größe. Man muss sie immer wieder darauf hinweisen, dass sie als Firmen Verantwortung tragen. Ich würde auf Freiwilligkeit setzen. Eine Zensur sollte es nicht geben.

Es muss doch eine Handhabe gegen rassistische Parolen im Netz geben? Wie lässt sich der Spagat zwischen Schutz und Zensur bewerkstelligen?

Das Problem lässt sich nicht ordnungspolitisch lösen. Hier muss auf breiter öffentlicher Basis Ideologiekritik geübt werden. Da fehlt es aus meiner Sicht. Was nützt es, wenn man allein Internet-Providern hinterhereilt und sich nicht mit der völkischen Ideologie auseinandersetzt.

Interview: NICOLE MASCHLER