Gestundete Gedächtnisschleifen

Ulrike Draesner findet die Fünfzigerjahre spannender als die Gegenwart: „Alles, was wir in den letzten zehn Jahren erlebt haben, hat es da doch bereits gegeben.“ Jetzt liest die Berliner Schriftstellerin beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt

von RALF HANSELLE

Am Winterfeldtplatz erklingt von irgendwo lautes Bongotrommeln. Ein paar Tagediebe suchen unter den Markisen der Straßencafés Schutz vor der heißen Mittagssonne, am Nachbartisch wird ein Streitgespräch auf Italienisch geführt. Es gibt Plätze in der Stadt, die wirken im Sommer geradezu mediterran.

Mit entsprechender Begleitung fühlt man sich wie auf einer römischen Piazza. Ulrike Draesner zum Beispiel ist eine solche Begleitung. Denn irgendwie erinnert die 1962 geborene Schriftstellerin an die Wahl-Römerin Ingeborg Bachmann. Große Worte, doch einiges spricht dafür. Nicht nur, dass ihr 1995 bei Suhrkamp erschienener Lyrikband „gedächtnisschleifen“ von manchem mit „Die gestundete Zeit“ verglichen worden ist, auch haben beide zunächst eine akademische Laufbahn begonnen, bevor sie sich mit Lyrik, Prosa und Hörspielen ganz auf die Literatur festlegten. Und nun liest Ulrike Draesner bei jenem Wettbewerb, dem die Klagenfurterin ihrem Namen gab: dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

Während ältere Herren im Unterhemd langsam über die Maaßenstraße schleichen, nippt Ulrike Draesner an einem Glas Bitter Lemmon und erzählt recht nüchtern und gelassen, wie sie an das begehrte Ticket ins österreichische Klagenfurt gekommen ist. „Ich war am Anfang selbst erstaunt, als mich Robert Schindel, der diesjährige Jurysprecher, anrief und nach einem Beitrag für den Wettbewerb fragte.“ Eine Verwunderung, die berechtigt erscheinen mag, schließlich ist der Ingeborg-Bachmann-Preis in den letzten Jahren eher ein Wettbewerb für literarische Debütanten denn für namhafte Schriftsteller gewesen.

Dieses Mal aber soll das anders werden. Mit Autoren wie David Wagner, Georg M. Oswald, aber eben auch Ulrike Draesner hat die Jury Kandidaten nominiert, die zumindest allesamt keine No-Names mehr im literarischen Betrieb sind. „Ich hab’ mich noch gar nicht so ausgiebig mit den Mitstreitern beschäftigt“, spielt Draesner die Angelegenheit herunter, als wolle sie den Wettbewerb mit einer stoischen Gelassenheit verdrängen. „Sicher, Klagenfurt ist keine Lesung wie jede andere, doch letztlich geht es eher um die einmalige Atmosphäre und gar nicht so sehr um ein literarisches Turnier.“ Sollte sie am Ende keinen der vier Preise gewinnen, dann würde sie nach einem interessanten Wochenende eben wieder nach Hause fahren.

So einfach ist das für eine Schriftstellerin, die auf den Literaturseiten der Feuilletons immer wieder gut besprochen, von einer breiteren Leserschaft bislang aber kaum wahrgenommen wird. „Ich würde mich schon freuen“, sagt Ulrike Draesner, „wenn der alljährliche Medienrummel am Wörther See dabei behilflich ist, meine Literatur einem größeren Publikum näher zu bringen.“

Die Schilderung ihres Wettbewerbstextes, der nach den Regeln des Bachmann-Preises jedoch noch unveröffentlicht bleiben muss, klingt zumindest verheißungsvoll. „Den Grundplott werde ich trotz der strengen Regeln wohl verraten können“, sagt sie. Und nach erneutem Nippen am Bitter Lemmon erklärt Ulrike Draesner schließlich, worum es in ihrem Beitrag geht.

Wie in ihrem Roman „Lichtpause“ handelt es sich auch diesmal um eine Familiengeschichte. Es geht um Lebensbeschreibungen aus der frühen Bundesrepublik und die unscheinbaren Spuren, die das Dritte Reich bei den Nachgeborenen hinterlassen hat. „Ich finde die Fünfziger- und Sechzigerjahre einfach unheimlich spannend“, sagt sie. „Alles, was wir in den letzten zehn Jahren erlebt haben, hat es da doch bereits irgendwie gegeben. Der Neoliberalismus und die postmoderne Ideologiekrise – das ist doch letztlich gar nicht so neu.“

Dass sie mit dieser Epoche zudem auch die Erfahrungen ihrer eigenen Generation thematisiert hat, kann Ulrike Draesner mit einem Verweis auf ihr Geburtsdatum nicht ganz von sich weisen. Vielleicht aber ist es gerade diese Geschichtlichkeit, die ihre Texte so reizvoll erscheinen lassen. Bedenkt man, dass viele der Autoren, die in den letzten Jahren angefangen haben zu schreiben, gerade mal zwischen zwanzig und dreißig sind, dann wirken die Blickwinkel der Literaten aus der Hettche- und Meinecke-Generation geradezu ausgefallen und bereichernd.

Wo sich die Jüngeren größtenteils auf einen neuen Plauderton und ein manchmal naives Vertrauen in die Sprache geeinigt haben, da sind Draesners Texte zumeist skeptischer. Gewohnte Ausdrucksweisen werden durch neue Kontexte nicht nur umgebogen, sondern oftmals auch der Lächerlichkeit preisgegeben. Zudem bettet sie ihre Prosa in einen historischen Kontext, der meistens weit über das Jahr 1989 hinausreicht.

Für Ulrike Draesner scheinen selbst kleinste Beobachtungen immer auch mit Geschichte verbunden zu sein. Selbst ihre Wahlheimat Berlin beurteilt sie weniger nach dem breiten Lifestyleangebot als nach der permanenten Präsenz der deutschen Vergangenheit. „Ich glaube, es gibt keine andere Stadt, in der die letzten Jahrzehnte so gegenwärtig sind und in der man täglich damit beschäftigt ist, nach zeitgemäßen Formen für das Vergangene zu suchen.“

Während sie so über Geschichte und Literatur redet, beginnt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Presslufthammer laut zu rattern. Der Krach frisst Ulrike Draesners Worte nahezu auf. Vielleicht, denkt man da, ist es heute tatsächlich wie in den Fünfzigern: Während man im Neuen Berlin unter großem Getöse „wieder aufbaut“, redet eine in sich gekehrte Schriftstellerin gegen Euphorie und Baulärm an.