Das radikal Andere, das interessiert

Europa ist blind für alle künstlerischen Entwicklungen, behauptet Gordana Vnuk, die sich nicht unter das westliche Konzept von Zeitgenossenschaft subsumieren lassen. Ein Besuch in Zagreb bei der zukünftigen Leiterin der Hamburger Kampnagelfabrik

von CHRISTIANE KÜHL

Einige wundersame Dinge geschehen in dieser Stadt schon. Eine Postkarte beispielsweise, auf der großen Praska vor der prächtigen Kroatischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in den Briefkasten geworfen, findet sich nur wenige Sekunden später auf dem Boden der Prachtstraße wieder. Ein Zimmer, am Montag in der „Pansion Jägerhorn“ für 400 Kuna bezogen, kann schon am Dienstag unter Beteuerung des allergrößten Bedauerns seitens der Rezeption 750 Kuna kosten. Und auf den Schienen der himmelblauen Straßenbahn kommt einem ab und an – höflich grüßend, möchte man meinen – ein handtellergroßer Maikäfer entgegen.

Nächtlich urbanes Leben

Sonst aber muss sich der westeuropäische Besucher Zagrebs über wenig wundern, außer vielleicht über die eigenen Vorurteile. Wem nach zehn Jahren an- und abschwellender Nachrichtenflut aus (Ex-)Jugoslawien die Bilder von Zagreb, Belgrad und Dubrovnik vor dem inneren Auge etwas verschwommen sind, stellt erstaunt fest, dass in der kroatischen Hauptstadt auf den ersten Blick überhaupt keine Spuren des Krieges auszumachen sind. Weder in der Oberstadt, die mit ihren steilen Treppen, kleinen Plätzen und zahlreichen Kirchen über unbeschadete Zeugnisse aus Mittelalter, Barock und Neogotik verfügt, noch im großzügig angelegten, klassizistisch dominierten jüngeren Zentrum mit den Akademien, der Universität und dem monumentalen Nationaltheater. Im warmen Junilicht besehen, scheint Zagreb allein aus Schuhgeschäften und Eisdielen zu bestehen. Die Straßencafés, die sich in weiten Fußgängerzonen aneinander drängen, sind selbst um Mitternacht bis auf den letzten Stuhl besetzt. „Das habe ich in England am meisten vermisst“, sagt Gordana Vnuk, von 1996 bis 1999 Leiterin der Theaterabteilung des renommierten Chapter Arts Centre in Cardiff: „das urbane Leben.“

Als Treffpunkt hatte sie der deutschen Journalistin das Nationaltheater vorgeschlagen. „Frag dich einfach durch, das kennt hier jeder“, hatte sie nicht zu Unrecht behauptet, wobei vor dem Theater schnell klar wurde, dass hier vor allem jeder Gordana Vnuk kennt. Lächeln, grüßen, News austauschen. Kein Wunder: Seit ihrem 17. Lebensjahr ist sie in der Kulturszene ihrer Heimatstadt aktiv und in wachsendem Maße bestimmend geworden. Wer die zierliche Person auf ihrem kleinen roten Fahrrad durch Zagreb zischen sieht, mag sie aus der Ferne für 14 halten; wer die Stationen ihres Lebenslaufs addiert, muss denken, sie sei 74. Schon als Siebzehnjährige war sie Mitglied von Coccolemocco, einer der wichtigsten freien Theatergruppen Jugoslawiens. Mit Musikern, Tänzern, riesigen Puppen oder auch mal einem ganzen Chor wurden Texte von Brecht und André Gide kombiniert. Das war 1974. Im selben Jahr wurde der Gruppe die Organisation der internationalen „Young People's Theatre Days“ in Zagreb übertragen, 1980 die Leitung des internationalen Theaterfestivals in Dubrovnik. Bevor sie 1987 Eurokaz, das heute wichtigste Tanz-und Theaterfestival Osteuropas, gründete, hatte sie einen Universitätsabschluss in Vergleichender Literaturwissenschaft und Anglistik in der Tasche, dem später ein Postgraduiertenstudium in Frankreich folgte. Sie absolvierte Dramaturgien unter anderem in Mostar, Rijeka und Ljubljana, beim Theater Pralipe in Skopje, dem Iljhom Studio in Usbekistan und dem B.I.T im norwegischen Bergen. Daneben veröffentlichte sie theoretische Essays, hielt Vorträge bei Symposien von Russland bis Australien, unternahm Recherchereisen in Nord- und Südamerika, Afrika und Japan. Und, ach ja: Zwischendurch war sie Produktionsleiterin bei Paramount Pictures, MGM und Peter Ustinov Productions. Wenn sie nächstes Jahr die künstlerische Leitung der Hamburger Kampnagel-Fabrik übernimmt, ist Gordana Vnuk 44.

Erschöpfung muss sie kennen, aber es ist der wachen Frau keine anzumerken. Nach dem gemeinsamen Theaterbesuch an diesem Abend Anfang Juni wird sie sich an den Katalogtext für das aktuelle Festival setzen. Am Vormittag erst hatte das Büro bezogen werden können, das die Stadt Eurokaz nach zähem Ringen endlich zur Verfügung gestellt hat, Regale mussten aufgestellt und Tischplatten auf Böcke gehievt werden, an denen sie und drei Mitarbeiter plus drei Praktikanten nun von früh bis sehr spät Erstaunlichkeiten koordinieren. Mit einem Budget von lediglich 150.000 Mark, ergänzt durch unermüdliches Akquirieren von Sponsoren und die Hilfe ausländischer Kulturinstitute, hat Vnuk elf Produktionen zu Eurokaz 2000 geladen, die sich in drei Schwerpunkten gliedern lassen: Innovation in Institutionen; neues italienisches Theater und ikonoklastisches Theater. Inszenierungen aus großen Repertoiretheatern wie dem Kroatischen Nationaltheater in Split oder dem Theatre Gérard Philippe in Saint-Denis stehen neben Produktionen junger freier Gruppen, etwa der italienischen Fanny & Alexander oder Gob Squad und Showcase Beat Le Mot aus Hamburg. Das verbindende Element beschreibt sie am Dienstag in einem Restaurant um die Ecke vom Büro, wo – lächeln, grüßen, News austauschen – der Weg von der Tür zum Tisch etwa ebenso lange wie das Essen selbst dauert. Über einem imposanten Grillteller, der nebst Interview in der kurzen Mittagspause bewältigt wird und ein berufsbedingtes Doppeltalent von zeitgleichem Schlucken und Reden unter Beweis stellt, erläutert sie ihr wichtigstes Anliegen: zu zeigen „where the Theatergeist moves“.

Kritische Mission

Der Theatergeist, wie Vnuk ihn erhascht hat, bewegt sich an den Rändern. Diese Ränder sind mehr als geografisch definiert: Es sind die Zonen, für die Westeuropa blind ist. 1990 schon, als das IETM (Informal European Theatre Meeting) in Zagreb tagte, habe sie versucht, den westlichen Kollegen die Augen zu öffnen für den kroatischen Regisseur Branko Brezovek, für die Slowenen Vito Taufer und Dragan Zivadinov, deren Arbeiten zu dem Zeitpunkt so wichtig gewesen seien wie zwanzig Jahre zuvor die Peter Steins und Claus Peymanns. „Aber Europa war und ist nicht in der Lage, die reichen Ressourcen der Minderheiten zu sehen“ – Epigonentum und Folklore habe man den Künstlern vorgeworfen, weil der westzentrierte Blick den spielerischen Umgang mit der lokalen Tradition, den offensiven Einsatz populärer Mythologien und das ironische Zitat anderer Stragegien als solche nicht erkannte. „Das westliche Konzept von Zeitgenossenschaft ist ein sehr oberflächliches“, hat Gordana Vnuk die Erfahrung gelehrt: „Alles, was sich nicht in dieses Konzept fügt, was nicht assimiliert werden kann, wird nicht dazugezählt. Dabei ist es genau dieses radikal Andere, das mich interessiert.“ Das Präsentieren dieses Anderen – „das vielleicht selbst keine Theatergeschichte schreibt, aber ihre Entwicklung ermöglicht“ –, die Reorganisation von Kritik und Wahrnehmung ist das, was man Gordana Vnuks Mission nennen möchte.

Ihre wichtigste Strategie dabei lautet „Kontextualisieren“. Auf Kampnagel will sie Stücke in zweimonatigen Themenpaketen zeigen, die unter einem jeweils besonderen Aspekt präsentiert und vor allem auch diskutiert werden sollen. Keinesfalls nur osteuropäische Arbeiten, aber defintiv solche, die sie als „Post-Mainstream“ bezeichnet. Ein Begriff, der sich nicht von dem abgrenzt, was in 95 Prozent aller Stadttheater gezeigt wird, sondern von jener immer wieder beschworenen „Avantgarde“, die seit gut zehn Jahren internationale Festivals dominiert.

Hatte Gordana Vnuk in den Achtzigern selbst Jan Fabre, Rosas, Fura dels Baus, Barberio Corsetti und Robert Wilson präsentiert, fühlt sie sich heute durch die von ihnen geprägte neue Dramaturgie und die, „wo immer man hinkommt, ein und dieselbe Theatersprache terrorisiert“. Die von flämischen, niederländischen und nordamerikanischen Gruppen initiierte Öffnung des Theaters in Richtung Bildende Kunst, Tanz und Medien hat eine kühle, selbstreferenzielle Ästhetik hervorgebracht, deren Verdienst laut Vnuk vor allem darin liegt, „die Theatersprache mit Hilfe des Bildes von textueller Ideologie befreit“ zu haben. Längst aber hält die Vielgereiste eine neue Generation für wichtiger: Künstler, die sich mit der Destruktion der Bilder als potenziellen Ideologieträgern beschäftigen.

Nobler Dilettantismus

Dieses „Ikonoklastische Theater“, wie Vnuk es definiert, bedient sich des ursprünglichen Theatermaterials: Schauspieler, Text, Tradition. Allerdings verweigert es sich repräsentativer Funktionen. Es verweigert sich überhaupt allem, was man gemeinhin vom Theater erwartet: einer Geschichte, psychologischer Komplexität, dekodierbaren Bildern, Spannung, jeglichem Spektakulärem. Nicht das Spiel, sondern das „social gathering“ bestimme die Theatersituation hier. Ja, sagt Gordana Vnuk, das würde oft amateurhaft wirken, aber sie spreche lieber von noblem Dilettantismus. Weil der ikonoklastische Künstler ein Anliegen habe: das Theater „von einer die Imagination blockierenden Kodierung zu befreien“. Was eben auch ihr Anliegen ist. Weshalb die norwegischen BAK-Truppen, die Soc. Raffaello Sanzio, die Walisin Sioned Huws, Branko Brezovek sowie Gob Squad und Showcase wohl auch unter ihrer Ägide auf Kampnagel zu sehen sein werden. Genaueres über ihr Programm für Hamburg will sie erst ab Herbst verraten, wenn sie an die Elbe zieht. Nach so viel Reden von den Rändern und dem radikal Anderen hofft man jedoch schon, dass auch eine Menge Unbekannte dabei sein werden.

Zagreb pulsiert. Wenn Eurokaz am Samstag endet, läuft bereits ein Animationsfilmfest; vorausgegangen waren allein in diesem Monat eine Kabarettwoche sowie ein internationales Festival für zeitgenössischen Tanz. Eurokaz ist mit 14 Ausgaben das jüngste dieser Festivals – seit 1987 findet es jeden Sommer statt. Nein, sagt Vnuk mit Nachdruck, der Krieg habe auf ihre Arbeit zu keinem Zeitpunkt Einfluss gehabt. Als er 1991 während der zweiten Festivalwoche ausbrach, hatte man natürlich eine Menge umorganisieren müssen, da der Flughafen gesperrt war. Kein einziges der Ensembles aber sagte ab, sie kamen über den Landweg durch Slowenien. Nur die Bühnenbilder haben es nicht alle geschafft: Hans-Jürgen Syberbergs Lastwagen wurde zum Barrikadenbauen im Nachbarstaat behalten. „Ich habe den Krieg mich nicht daran hindern lassen, zu tun, was ich tun will. Das war mein Widerstand. Und ich habe darum gekämpft, die richtigen Informationen zu verbreiten: dass es sich bei diesem Krieg nicht um einen plötzlichen Ausbruch balkanischer Leidenschaft handelte, sondern um geplante serbische Aggression, unterstützt von serbischen Intellektuellen.“

Heute, neun Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens, sind ihre Kämpfe wieder profaner. Was das Festivalmachen betrifft, geht es vor allem ums Geld. Die Devisen der Soros Foundations, die zur „Unterstützung des Aufbaus Offener Gesellschaften“ einst reichlich nach Mittel- und Osteuropa flossen, werden von dem in Ungarn geborenen US-Amerikaner mittlerweile verstärkt in die südliche Hemisphäre geleitet. Der Sponsor Peugeot sprang ab, weil das nach Zagreb geladene französische Theater Pasolinis „Schweinestall“ spielt – ein Titel, mit dem sich das Unternehmen nicht verbunden wissen will. Kroatien scheint endgültig im Kapitalismus angekommen. Das erleichtert die Planung kultureller Veranstaltungen nicht.

Die Planung postalischer Grußübermittlungen im Übrigen auch nicht. Vier Tage sollte die brav vom rostigen Briefkasten zur Hauptpost getragene Karte unterwegs sein, aber bisher hat sie sich in Berlin nicht blicken lassen. Im besten Fall ist sie noch in Zagreb dem Theatergeist begegnet.