Versetzte Gleichzeitigkeiten

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

„Dabei wissen wir, dass Lohngleichheit für Frauen auch nach mehr als 35 Jahren grundgesetzlich verbriefter Gleichberechtigung und nach nahezu ebenso langen Bemühungen, noch immer nicht voll verwirklicht ist.“ (Herta Däubler-Gmelin, heutige Bundesjustizministerin, 1985 im Vorwort zum Handbuch zur beruflichen Förderung von Frauen „Mehr als nur gleicher Lohn!“)

Morgens in Ulm im Hotel. Der Mann hinter der Rezeption erzählt von dem Erweiterungsbau mit fünfzig Betten. Ich frage, ob es sich um das dunkelrote Backsteinhaus handelt, das ich vergangene Nacht im Bett hinter meinem Kopfende gefühlt hatte. Das Fenster stand halb offen, und ich hatte die gelbliche Tüllgardine sowie den bräunlich gemusterten Vorhang aus schwerem Wachstuch zurückgezogen, um die Ziegelwand im Auge behalten zu können. Warum eigentlich? Gegen zwei Uhr schlief ich endlich ein.

Er verneint. Der alte Kasten doch nicht, entrüstet er sich. Er will meine Rechnung fertig machen und von den Vergrößerungsplänen des Hotels erzählen, aber er kann nur eines zur Zeit, entweder rechnen oder reden. Seine Kollegin kann mehrere Sachen auf einmal erledigen. Sie bedient das Telefon und sortiert die Post, gibt einem Gast den Zimmerschlüssel und behält noch ihre im Nebenraum auf einer Untertasse qualmende Zigarette im Auge. Für das, was sie im Gegensatz zu ihm mehr leistet, bekommt sie weniger Geld als er. Das weiß ich. Das muss ich nicht erst recherchieren.

Wahrscheinlich ist sie aus dem Osten. Alle aus dem Osten rauchen so viel. Weniger Geld als er bekommt sie aber nicht, weil sie aus dem Osten ist, sondern weil sie weiblichen Geschlechts ist. Wäre sie ein Mann und aus dem Osten, würde sie auch weniger bekommen als ihr Kollege aus dem Westen, aber immerhin doch mehr als eine Frau aus dem Osten und in etwa genauso viel wie eine Frau aus dem Westen, was bedeutet, dass Ostmänner noch immer so schlecht bezahlt werden wie Westfrauen und die allein erziehende Ostfrau am untersten Ende der Lohnmisere hängt.

Dieses Haus aus rotbräunlichen Ziegeln, das ich vergangene Nacht in meinem Rücken fühlte, sei nicht der Erweiterungsbau des Hotels, sagt der westdeutsche Spitzenverdiener hinter der Rezeption zu mir, der Erweiterungsbau komme selbstverständlich nach vorne heraus.

Während er mir das erzählt, hält er den Zeigefinger über der Computertaste, ohne sie zu berühren, denn jetzt spricht er, da kann er nicht gleichzeitig drücken. Das dunkle Ziegelhaus werde restauriert und steht unter Ensembleschutz als erhaltenswerte Bausubstanz, teil er sein Wissen mit, da komme ein städtischer Kindergarten hinein. Ich sage, wie schön, um irgendetwas Kurzgefasstes zu sagen, damit er mir meine Rechnung fertigmachen kann. Er nickt und wendet sich wieder dem Computer zu. Was haben Kinder in einem so dunklen Haus zu suchen, denke ich? Er sagt gegen den Bildschirm gerichtet: „Da war früher der Gestapokeller drin.“ Versetzte Gleichzeitigkeiten. Er drückt auf die Computertaste. Neben mir sagt eine ältere Frau zu einer anderen Frau: „In den letzten Jahren habe ich drei Umzüge gemacht, meine Mutter beerdigt und diesen ganzen Stress.“ Dann gehen sie.

Sie kamen nach mir an die Rezeption und sind schon fertig, bedient von der tüchtigen Ostfrau, die sich bereits dem nächsten Gast zuwendet. Wir Frauen werden zusehen können, wie zwischen Ostmännern und Westmännern die Lohnungleichheit verschwinden wird, diese „Gerechtigkeitslücke im neuen Deutschland“. Die pathetische Phrase ist bei den Tarifverhandlungen allgemeiner Journalisten- wie Politikerjargon.

Ich sage zu dem Mann an der Rezeption: Wie kann man die Kinder da hinschicken? In dieses Haus? Wieso?, fragt er, und da ich nicht antworte, erkundigt er sich, ob ich mit Karte oder in bar zahlen wolle. Ich zahle in bar. Ich zahle gern in bar. Ich mag es, Geldscheine in der Hand zu haben. Ich hätte nichts dagegen, wenn es heute noch Golddukaten gäbe. So ein pralles Säckchen wäre spürbar Besitz. Während ich dem Mann hinter der Rezeption meine Scheine hinzähle, denke ich: Natürlich wegen der Gespenster im Gestapokeller. Man kann die Kinder doch dort nicht spielen lassen. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind, und werden sich dort in fremden Gefühlen verlaufen. Die Seele eines ermordeten Juden, so wusste es meine Großmutter vom Rabbi, bleibt unter den Lebenden, bis seine ihm vorbestimmte Zeit abgelaufen ist. Ein geheimer, vielleicht ein heiliger Zauber.

Da werde jetzt von der Stadt ganz viel Geld hineingesteckt, sagt der Mann hinter der Rezeption, und die Kinder wüssten nichts davon. Das sei doch schon über fünfzig Jahre her. Er und seine Geschwister hätten in den Fünfzigerjahren unterm Tannenbaum Naziweihnachtslieder gesungen, ohne das zu wissen. Die hätte die Mutter ihnen beigebracht. Er summt eine Melodie, die er nach fast fünfzig Jahren gut erinnert. Seine Kollegin, die Ostfrau, hört uns zu. Das klinge aber schön, lobt sie ihn und zieht an ihrer Zigarette. Er sieht sie erfreut an, als würde ihm völlig überraschend eine alte Bekannte vorgestellt. Ob sie das Lied kenne, fragt er hoffnungsvoll. Sie schüttelt den Kopf.

Wahrscheinlich hat sie ihn nur gelobt, um rauchen zu können. Vielleicht kommen Frauen so zu ihrem Geld? Indem sie Männer loben? So versuchen sie es seit Generationen, und es wird nichts. Nur, wenn alle Frauen zusammenhielten? Doch warum sollten sie erst dann angemessen bezahlt werden?

Ob ich etwas aus der Minibar genommen hätte, fragt er mich, und als ich verneine, sieht er so aus, als glaubte er, ich würde ihn betrügen wollen. Um drei Mark fünfzig für eine ganz kleine Flasche Mineralwasser? Ein unverschämter Preis. In deutschen Hotels trinke ich immer aus der Wasserleitung. Das Leitungswasser in Deutschland ist reines Trinkwasser. Aber in dieser Nacht, neben dem dunklen Haus, war das nicht möglich. Ich blieb durstig. Ich mochte nichts in mich hineinnehmen.

Die Taxe ist da. Die junge Frau von der Rezeption trägt meine Reisetasche zum Auto. Ich bin überrascht über diese Geste und überlege, ob ich ihr ein Trinkgeld geben kann oder ob sie das kränken würde. Sie ist schließlich kein Page.

Dem Taxifahrer werde ich ganz bestimmt eine oder zwei Mark Trinkgeld geben, damit er nicht schlecht von mir denkt. Habe ich Schwierigkeiten, eine Frau mindestens ebenso gut zu entlohnen wie einen Mann? Dem Zimmermädchen habe ich etwas auf den Nachtschrank gelegt. Hoffentlich schnappt sich das nicht der Etagenkellner. Zukünftig werde ich das Trinkgeld für das Zimmermädchen ins Bad legen. Das Putzen der Toilette ist Frauenarbeit. Da guckt der Kellner nicht rein.

Ich letzter Sekunde, bevor ich einsteige, gebe ich der Frau ein Zweimarkstück. Sie freut sich. Bitte, zum Bahnhof, sage ich im Auto. Der schmale Garten zwischen dem braunroten Backsteinhaus und dem Hotel, in den ich vergangene Nacht hinuntersah, war kein Garten, sondern ist ein Grab. Die Kinder werden dort spielen. Das weiß ich jetzt und fahre damit fort. Im Hotel, als die unmittelbaren Nachbarn, werden sie es nie wissen wollen.

Hinweise:Vielleicht kommen Frauen so zu ihrem Geld? Indem sie Männer loben? Es wird nichts.Habe ich Schwierigkeiten, eine Frau mindestens so gut zu entlohnen wie einen Mann?