Der Tod, ein Spießer aus Deutschland

Bei seiner ethnologischen Reise durch deutsche Tätergeschichten ist Romuald Karmakar in „Manila“ angelangt. Sein neuer Film untersucht die Schnittstelle von Tourismus und Prostitution, entlarvt dabei jedoch vor allem die Haltung des Regisseurs

von KATJA NICODEMUS

Es gibt keinen anderen deutschen Regisseur, der sich wie Romuald Karmakar in die Versprachlichung von Gewalt versenkt hat. Ihn interessiert der Moment, in dem ein Mörder seine Opfer als Puppenjungs bezeichnet oder behauptet, Kriegsverbrechen und Judenvernichtung mit „Anstand“ zu betreiben. Sich den Signifikanten stellen – aus dieser Haltung heraus hat Karmakar eine Art filmische Genealogie der gesprochenen Gewalt geschaffen.

„Warheads“, „Der Totmacher“ und „Das Himmler-Projekt“ – drei Filme mit drei (Fast-)Monologen, die mal dokumentarisch, mal halbdokumentarisch einen fortlaufenden Redefluss ergeben. Bei Karmakar ist es stets die Rede des Täters. In „Warheads“ der Lebensbericht des Söldners und Fremdenlegionärs Günter Aschenbrenner, der mit biederer Selbstverständlichkeit von seinen globalen Mordmissionen berichtet. Götz George schildert in der Rolle des „Totmachers“ Fritz Haarmann haarklein entlang der historischen Vernehmungsprotokolle vomTrieb, kleine Jungs abzuschleppen, umzubringen und zu zerstückeln. Und in „Das Himmler-Projekt“ trägt der Schauspieler Manfred Zapatka als Innenminister und „Reichsführer SS“ drei Stunden lang eine Rede vor, die den nationalsozialistischen Völkermord in aller Offenheit beschreibt, rechtfertigt, einfordert. Und nun wird in seinem neuen Film „Manila“ ein ganzer Flughafen zur diskursiven Schnittstelle von Tourismus und Prostitution, Spießertum und weltmännischem Sexgehabe.

Glamouröse Täter

In Karmakars Filmen geht es nicht darum, deutschen Tätern im Sinne einer nacherlebenden Verstehensarbeit nahe zu kommen, und auch erst in zweiter Linie um moralische Begriffe wie Schuld oder Gewissen. Es geht um so etwas wie eine Ethnologie und Rekonstruktion der eigenen Kultur, um das Erarbeiten und Herauspräparieren der Erfahrungs-, Sprach- und Sinnraster, die individuelle Schuld erst hervorbringen. Genau diese Abstraktion macht Karmakars Täterreden so unbequem. Ihre schwere und bedrohliche Materialität, ihre innere Logik und Detailgenauigkeit verleiht diesen Diskursen eine Geschlossenheit, an der alle herkömmlichen Beurteilungsschemata zerschellen.

Das Lied von Fritz Haarmanns Hackebeilchen kennt jeder, Mitte der 80er-Jahre machte es in der Berliner U-Bahn sogar Reklame für ein Wachsfigurenkabinett, aber wer möchte schon in der quälenden Präzision des Verhörs erfahren, mit welcher Weltsicht man andere Menschen in winzige Stückchen zerhackt und dann zu Fleischerwaren verarbeitet? Oder voller Stolz über die ausgeklügelte Programmatik eines Völkervernichtungsfeldzuges doziert?

Kein Nazi ist nur derjenige, der weiß, dass er selbst einer sein könnte – in Romuald Karmakars dokumentarischen Rekonstruktionen führt der Weg auf die „andere“ Seite stets über die Monströsität der eigenen Vernunft. Damit sind seine Filme antiaufklärerisch im besten dialektischen Sinne.

Zwischen den bisherigen Arbeiten des Regisseurs und seinem neuen Film gibt es allerdings einen entscheidenden Unterschied, was das glamouröse Potenzial der Täter betrifft. Gestalten wie Fritz Haarmann, Heinrich Himmler und letztlich auch der Söldner Aschenbrenner sind immer auch umgeben von der morbiden Aureole des Bösen, Abstoßend-Faszinierenden. Sie reihen sich in die historische Tradition von Massenmördern wie Gilles des Rais und Jack the Ripper bzw. in die populärkulturelle der amerikanischen Serienkiller. Die respektvolle Distanz, die Karmakar seinen „schwarzen Helden“ entgegenbringt, ist von diesem faszinierenden/faszinierten Moment wahrscheinlich nicht ganz abzulösen.

In „Manila“ versammelt der Regisseur nun Figuren eines völlig anderen Kalibers in der Flughafenhalle der philippinischen Hauptstadt: deutsche Klein- und Möchtegern-Bildungsbürger, proletarische Großkotze, die ihr Selbstbewusstsein aus der gekauften Zweisamkeit mit Prostituierten ziehen, und Aussteiger, die sich das eigene Zuhälterdasein als Entwicklungshilfe schönreden. Eine geballte Ansammlung deutscher Mittelmäßigkeit und Verklemmtheit, die angesichts von Hitze, Übermüdung und des immer weiter verzögerten Rückflugs in die Heimat allmählich zur dialogischen Selbstentblößung übergeht.

Schuldige Kleinbürger

Wenn der schwäbische Schlaumeier Franz (Martin Semmelrogge) sich als eine Art Wegelagerer zur philippinischen Klofrau gesellt, seine private Sextouristenphilosophie entwickelt und den vorbeigehenden Herren pornografische Prostituiertenfotos zeigt, wenn Herbert aus Neustadt (Manfred Zapatka) von seiner Frau und dem neuen Sofa schwärmt und sich dabei unterm Tisch einen blasen lässt, oder wenn der ehemalige Bundeswehrsoldat Rudi (Jürgen Vogel) erzählt, wie er in Somalia in einer schäbigen Hütte mit einer Minderjährigen zugange war – dann entsteht ein Panoptikum des deutschen Spießers, wie man ihn sich in Bumsbombern halt so vorstellt.

Noch unangenehmer als die Figuren ist allerdings Karmakars Haltung ihnen gegenüber. Die Mörder seiner früheren Filme waren Souveräne ihrer Sprache, mit der sie ihre eigene dokumentarische und dokumentierte Wahrheit über sich selbst erzählten. Für „Manila“ hat Karmakar gemeinsam mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff ein Drehbuch verfasst, das jedem der am Flughafen Wartenden auf Pointe getextete Selbstentblößungen in den Mund legt. Etwa „Knut aus dem Osten“: „Bei mir kam erst der Junge, dann der 8. Parteitag. Und die Regine, die war immer da.“ Oder seiner Frau: „Wir kommen aus Apolda. Das liegt in der Nähe von Weimar – oder Buchenwald, wie sie wollen.“ Oder Franz, wenn er von seinen beiden philippinischen Saisongeliebten erzählt: „Wie daheim bei der Mittwochsziehung.“ Ob Anekdoten, Ehekräche oder alkoholselige Verbrüderungen – in „Manila“, dem dialogischen Metafilm, steht hinter jeder Äußerung der implizite Kommentar des Regisseurs. Deshalb wirken die Figuren den eigenen Worten merkwürdig marionettenhaft entfremdet. Eigentliches Subjekt ihrer Sprache ist Romuald Karmakar, der endlich mal die ganze Wahrheit über den deutschen Spießer rauslassen will.

Nur eine Figur kann sich der Entmündigung entziehen, wohl weil sie dem Standpunkt des Regisseurs und Autors am nächsten kommt. So formuliert die amerikanische Journalistin (Elizabeth McGovern) die Wahrheit über ihre deutschen Schicksalsgenossen in handlichen Maximen: „Ein Deutscher zu Hause, das ist eine heile Welt ... Ein Deutscher weit weg, das ist immer eine kleine offene Wunde.“ Wenn Zapatka alias Franz aus Neustadt beim Blow Job in der Flughafenbar auffliegt, schlägt die distanzierte Beobachterin in einem Schlüsselsatz dann endlich den inhaltlichen Bypass zwischen deutscher Verklemmtheit und Geschichte: „Wenn in Buchenwald nur das passiert wäre, stünden die Deutschen heute besser da.“

Historischer Bypass

Wahrscheinlich liegt genau hier das Problem. „Manila“ ist ein einziger unausgesprochener Vorwurf an den prototypischen deutschen Kleinbürger und das, was er in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts angerichtet hat. Wenn die Lehrerin aus der DDR (Margit Carstensen) mit ihrem armseligen Alibi-Mahnmal für die ermordeten Juden als bildungsbürgerliche Verdrängerin bloßgestellt wird, wenn der ehemalige Soldat erzählt, dass die Bundeswehr in Somalia erst mal für Ordnung sorgen musste – dann entsteht auf der Leinwand ein Wachsfigurenkabinett des schuldigen Spießers, eine Versuchsanordnung für den Sozialkundeunterricht, in der die wenigen philippinischen Figuren allenfalls Statisten sind. So löst sich auch das große Rätsel, wie man mit so vielen erstklassigen Schauspielern eine derart leblose Veranstaltung inszenieren kann: Karmakar interessiert sich nicht für seine Figuren, sondern für das, was er ihnen unterstellt – der Flughafensaal ohne Flughafenatmosphäre wird zur schalltoten Bühne dieser Beweisführung.

Kein Nazi ist nur der, der weiß, dass er einer sein könnte – die Offenheit und das geradezu anthropologische Interesse, mit dem sich Karmakar den Massenmördern seiner früheren Filme näherte, vermag er den dumpfen Deutschen aus „Manila“ nicht entgegenzubringen. Indem sich sein Film Lichtjahre von den Spießern entfernt wähnt, die er vorführt, entlarvt er letztlich nur die eigene Kleingeistigkeit.

„Manila“. Regie: Romuald Karmakar. Mit: Jürgen Vogel, Manfred Zapatka, Margit Carstensen, Martin Semmelrogge, Elizabeth McGovern, Eddi Ahrendt u.a., Deutschland 1998, 115 Min.