Die entsprungene Natur

Momentan ist die Öffentlichkeit doppelt erregt: über den Angriff der Kampfhunde und über die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die erhitzte Debatte spiegelt das kollektive Unbewusste

von MARTIN ALTMEYER

Cool the gene-fever! So versucht die Presse in den USA beruhigend auf die erhitzte Debatte über Möglichkeiten und Gefahren der Gen-Technologie einzuwirken, die in diesen Tagen die Medien beherrscht und in Deutschland die Hysterie über die Schande der Fußball-Nationalmannschaft abzulösen beginnt. Die zahlreichen Leitartikel, Interviews und Hintergrundberichte zum erfolgreichen Human-Genom-Projekt konkurrieren hier zu Lande allerdings mit der Berichterstattung über die Kampfhunde, mit der sie sich Schlagzeilen und Aufmerksamkeit teilen müssen.

Die Erregung hält sich trotz des Themenwechsels auf hohem Niveau, und wir müssen uns daher die Frage gefallen lassen, ob hier nur der Zufall der Gleichzeitigkeit oder eine andere Macht der Assoziation am Werke ist. Könnte es sein, dass in den Tiefen des Unbewussten die Entschlüsselung der genetischen Grundlagen des Menschen etwas zu tun hat mit der Bedrohung durch gefährliche Hunderassen? Sollte im Netzwerk unserer seelischen Dispositionen eine Verbindung bestehen zwischen dem Tod eines unschuldigen Kindes, das von Bestien zerfleischt worden ist, die wir selbst durch Züchtung erzeugt haben, und den Fantasien, die um die gentechnische Manipulation unserer eigenen Natur kreisen? Eine wilde Deutung dieses inneren Zusammenhangs könnte lauten: In beiden Fällen geht es um die Hoffnung auf Erweiterung unserer Macht – aber auch darum, dass etwas aus unserer Kontrolle gerät und wir unsere eigenen Hervorbringungen nicht mehr beherrschen. Es wäre das Frankenstein-Syndrom, dessen Kern in der Angst besteht, dass sich unsere Produkte gegen uns wenden könnten, wo wir sie doch für unsere Zwecke erzeugt haben.

Um diese Interpretation noch weiter zu treiben, würden wir vielleicht sogar behaupten, dass die Empörung über die Kampfhunde und ihre Besitzer eine affektive Ersatzveranstaltung ist, um eine viel tiefere Angst zu beruhigen. In der mitfühlenden Teilnahme am grausigen Ende eines sechsjährigen Jungen, der einen Namen trägt und auf einem Schulhof das Opfer eines Angriffs der menschenmanipulierten Natur wurde, schwänge kompensatorisch die Sorge mit, wir könnten einer für die meisten von uns anonymen Entwicklung in den Labors der Bio-Technologie nicht mehr Herr bleiben. Und die öffentliche Forderung nach einem Verbot der Züchtung und Haltung gefährlicher Hunderassen überdecke womöglich lärmend den stillen Wunsch, die letzten Geheimnisse wenigstens der menschlichen Natur zu wahren.

Welcher Affekt speist wohl die Radikalität, mit der die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Leitartikel vom 28. Juni das „Null Toleranz“-Konzept auf die Tierwelt überträgt und Eckard Fuhr rufen lässt: „Kampfhunde ausrotten!“ Allerdings kann man die Sache auch weniger aufgeregt sehen und kühl auf die aggressive Symbiose von Hund und Halter verweisen, wie Manfred Kriener dies zu Recht tut (in der taz am selben Tag). Er verlangt im Rahmen der Restvernunft, beide an die Leine zu legen. Denn der Hund solle erreichen, was sein tätowiertes und goldkettchenbehängtes Herrchen in seinem Leben nicht geschafft habe: sich Respekt zu erwerben. Daher sei das Problem mit einem Verbot nicht zu lösen. Peter Gross vom Berufsverband Deutscher Psychologen teilt diese kontextuelle Sicht der Dinge und erkennt im Halten von Kampfhunden eine wehrhafte Erweiterung der Persönlichkeit, die auch dem Waffenbesitz seinen narzisstischen Zug verleiht. (Dies gilt – nebenbei bemerkt – auch für den kraftvoll-aggressiven Landrover mit Frontgitter im Großstadtgebrauch.)

Es ist zu vermuten, dass selbst die Lobby der Tierschützer und Hundeliebhaber diese Sicht eingeschränkt übernehmen wird, wenn sich die Empörung über das Kindesopfer gelegt hat: Sie werden versuchen, die Ausrottung ihrer gefährlichen Schütz- und Lieblinge mit dem Hinweis zu verhindern, dass es der Mensch ist, der die unschuldigen Tiere zu Bestien macht. Wie wahr! Es ist tatsächlich der Mensch, der das Böse schafft und auch den bösen Hund. Wenn der auf Aggressivität gezüchtete Kampfhund einmal losgelassen ist und sich in das Schwache verbeißt, ist er von seinem Herrn nicht mehr zu halten, dessen Größenfantasien er ebenso agiert wie seine paranoiden Ängste.

Aber was ist nun mit dem Handbuch unseres genetischen Programms, um auf unsere gewagte Assoziation zurückzukommen? Ist es wirklich so, dass wir mit der Entzifferung der Buchstaben seines Textes – den wir damit noch lange nicht werden lesen können – einen Geist aus der Flasche gelassen haben, den wir nicht mehr einfangen können? Ja, so ist es. Wenn wir einmal die Reproduktion des Lebens selbst aus der Kontingenz der Natur in die Verfügbarkeit der Wissenschaft übernommen haben, geht es nicht mehr um eine rationale Steuerung von Input und Output, um die Kontrolle kausaler Wenn-Dann-Beziehungen. Ein System, das sich nicht nur selbst generiert, sondern die Regeln seiner eigenen Reproduktion kennt, ist nicht mehr von außen zu kontrollieren. Das menschliche Leben, das seine eigenen Bausteine manipulieren kann, ist so frei wie die hypermodernen Systeme künstlicher Intelligenz, die ihre eigenen Rechenregeln kennen und sich auch unter schwierigsten Bedingungen selbst steuern und reproduzieren.

Wir können deshalb die Fragen, welche die rasanten Erfolge des Human-Genom-Projekts aufwerfen, nicht mehr beantworten wie andere Fragen des technologischen Fortschritts. Mit ihren Analogien zur Erfindung des Buchdrucks, zur Entwicklung des Automobils, zur Mondlandung oder zur Kernspaltung werfen die naiven Befürworter (wie übrigens auch die ebenso naiven Kritiker) der potenziellen Neuschöpfung des Menschen Verschiedenes in denselben Topf. Als ob es hier wie da um die Abwägung von Nutzen und Schaden, von Folgen und Nebenfolgen, von Gewinn und Kosten ginge.

Der utilitaristische Ansatz wird der Selbstreferenzialität dieses Menschheitsproblems nicht gerecht – es erfordert nämlich eine Selbstverständigung der Gattung über Humanität. In einem intensiven, lang andauernden und weltweiten Gespräch werden wir uns über die Risiken unseres Lebens, über unser Verhältnis zu Alter, Krankheit und Schwäche, über den Umgang mit dem Tod, über unsere Toleranz für mangelnde Perfektheit, über Leistungsfähigkeit und Schönheit und vor allem über Selbstbehauptung, Solidarität und die Formen unseres Zusammenlebens verständigen müssen.

Diesem Diskurs, der auch ein Gespräch über Moral sein wird, können wir nicht entgehen – auch nicht, wenn wir ihn ersatzweise als Debatte über Kampfhunde führen. In der entsprungenen Natur blicken wir nämlich auf uns selbst.

Hinweise:Es geht um das Frankenstein-Syndrom, dass sich unsere Produkte gegen uns wendenEin System, das die Regeln seiner Reproduktion kennt, ist nicht mehr zu kontrollieren