Hach, Brigitte!

■ Allenfalls kann man von Achtel-BewohnerInnen sprechen. Aber die Zeit der Viertel wird kommen. Eine Bestandsaufnahme Im Viertel bleiben Viertel-BewohnerInnen gerne unter ihresgleichen. Dabei gibt es echte Viertel-BewohnerInnen noch gar nicht.

Viertel? Hört mir auf mit dem Gequatsche vom Viertel! Betrachten wir Atze und mich. Atze wohnt im Viertel. Ich wohn im Viertel. Treffen wir uns je? Wir treffen uns nie. Es sei denn auf einer Party 40 Kilometer außerhalb der Stadt. Die Wahrheit übers Viertel nämlich lautet: Es gibt kein Viertel! Sondern bloß zwei Achtel. Ich wohne im Ostertorachtel. Atze wohnt im Steintorachtel. Er nimmt seinen Cappuccino bei Ferrari. Ich nehme meinen Cappuccino bei Panciera. Das andere Achtel ist Feindesland, da werden Fahrräder demoliert und AIDS-Nadeln rumgeschmissen, und gottlob wurde mal zwischen den Achteln ein Sielwall aufgeworfen, an dem Raubritter postiert wurden, die finster eine Mark fordern. So bleibt man unter sich. Außerdem ist es Blödsinn, von einem Viertelbürgermeister zu reden. Man stelle sich ein Viertel von Robert Bücking vor, also ein Bein mit einem Stück Bauch und Arsch dran. Und die Frage würfe sich auf: Ist er Linksträger oder trägt er rechts?

Komischerweise ist in diesem Stadtteil Bremens, der mit „Viertel“ nur höchst unzulänglich umschrieben ist, kaum jemand für sein Links- oder Rechtsträgertum bekannt. Schon gar nicht Frauen. Frauen sind sowieso kaum bekannt im „Viertel“. Fragt mal jemand, wen er so kennt in Stein- und Ostertor. Da finden fast nur Jungs Erwähnung. Es scheint fast so, als kämen ins Oster- und Steintor-Viertel die Frauen nur zum Einkaufen. Jedenfalls stehen auf der Namensliste, die mir die taz-Radaktion überreichte, damit ich lobend und liebevoll ein freundliches Umfeld schaffe für hervorragende Anzeigen, sprich: 200 sämige Zeilen absondere über die tollen Viertelbewohner – also auf der Liste standen kaum Frauen und wenn, dann „Brigitte Supertitte“, eine käufliche Dame mit mütterlicher Figur fürs junge Publikum der Steintorschänke. Beziehungsweise Brigitte Lück, die Gründerin des Chors „Ein Ton tiefer“, die entweder beleibt oder grünhaarig oder beides oder rothaarig ist. Beziehungsweise Brigitte Dreyer, die entweder CDU oder SPD ist oder umgekehrt und schon die dritte Viertelbrigitte ist, woraus Voreilige wie ich schließen, dass Frauen, denen man im hier besprochenen Stadtgebiet begegnet, entweder einkaufen wollen oder Brigitte heißen. Was tief blicken lässt.

Damit die Brigittisierung der Gegend ein Ende hat, wurde Mitte bis Ende des letzten Jahrhunderts der Zuzug von Brigitten gestoppt und man förderte die Ansiedlung von Susannen (Paas, früher – ach! – taz, heute – och! – Umweltbehörde), Gülbahars (Kültür, Dichterin), Nenas und Andreas (zwei nicht nur peruanische, sondern auch noch schwarzhaarige und in einem Mutter-Tochter-Verhältnis gefangene Salsa-Tänzerinnen, über die es in meiner Namensliste heißt: „sehenswert“ und „im La Milonga und La Cita selbst abtanzend“). Gelegentlich rutschte ein Bruno durch, und der lachte sich ins Fäustchen und begann sofort als Eismann (Panciera, O-Weg). Brunos Masche ist, so sympathisch zu sein, dass man sich bei ihm schon wohlfühlt, bevor der Kaffee fertig ist. Im Gegensatz zu Bruno haben die meisten Frauen und Männer im Revier jedoch aus Angst vor dem Finanzamt vorsichtshalber keinen Namen, weil sie allabendlich schwarze Rosen („Keine Zeit für die Liebe?“) oder schwarze Pizzabrötchen verkaufen. Manche Leute verkaufen auch nichts, sondern sind nur neben der Spur, was man daran erkennt, dass sie pausenlos und beim Gehen laut über Fußball reden oder vor dem „Litfass“ immer irgendwas fegen. Manchmal heißen solche Leute „Wolfgang der Feger“.

Verrückt ist auch der Versuch, den Begriff „Viertel“ in einem Text über das „Viertel“ zu umgehen, indem man auf Umschreibungen wie „Gegend“, „Revier“ und „hier besprochenes Stadtgebiet“ zurückgreift. Einigen wir uns auf „Torviertel“? Oder genauer: „Toreviertel“?

Spricht man Veteranen (hier allerdings würde ich jetzt doch zu gern schreiben: Viertelveteranen) an auf Persönlichkeiten, die im Toreviertel hausen, fallen ihnen zuallererst die Verblichenen ein. Hach, Herr Flamme! Wie er sich im Dienstdaimler die 200 Meter von der Haustür zum Laden chauffieren ließ! Hach, der kleine alte Kommunist, der immer vor Comet seine linksradikale Zeitung feilbot! Oder jener vereinsamte Ingenieur aus dem Fesenfeld, der eine Bombe bei sich trug, die ihm am Aachener Bahnhof das Lebenslichtlein ausblies! Tot ist nicht Todt (man verzeihe mir das köstliche Wortspiel) – Jens ist nur aus dem Toreviertel nach Stuttgart gezogen, es gibt allerdings ernstzunehmende Zeitgenossen, die einem solchen Umzug den Tod vorziehen würden. Kaum totzukriegen ist auch der Name „Comet“ für das Lebensmittelgeschäft gegenüber der Puff- und Helenenstraße, das sich vergeblich „Extra“ nennt.

Damit wir voran kommen in der taz-Namensliste, hier eine Aufzählung verschiedener Toreviertel-Personen, die ebenfalls nicht totzukriegen sind: Jimmy Paesler, Wandmaler seit der Zeit, als man das noch tat, Haus: an der Wulwesstraße, Heimat: das Meer, Gaststätte: Zum lustigen Schuster. Da fällt mir rechtzeitig noch auf, dass man die meisten nicht Totzukriegenden regelmäßig im Lustigen Schuster treffen kann. Zum Beispiel Nelson, den Terrier, der an einer Leine Peter Dahl zur Theke führt, jenen Radiomann, der einst für die St. Pauli Nachrichten tätig war (Heimat: das Meer). Zum Beispiel Lothar Herborth, den man zu Recht „ehemaliger Promi-Wirt“ nennt und der nicht nur eine bewegende Autobiografie schreiben ließ, sondern auch gelernter Kohlenhändler und Schauspieler ist. Um die Ecke übrigens (Goethestraße) ist auch Herr Schiesches nicht totzukriegen, ein so eigenartiger Mensch, dass selbst Freunde ihn „Relikt aus verrückten Zeiten“ nennen. Herr Schiesches hat einen machtvollen Religiositätskomplex, ohne dass irgendeine Kirche ihm das danken würde, zudem betrieb er lange eine Untergrunddruckerei und soll in einem früheren Leben als Geistlicher es nicht verhindert haben, dass sich Frauen zu den Gesängen von Ton, Steine, Scherben die Garderobe vom Leib rissen.

Die Mieten sind nicht nur gesalzen, sonder auch gepfeffert. Autobesitzer, die im Toreviertel „leben“, verarmen entweder aufgrund der intensiven Parkraumbewirtschaftung oder wegen der stundenlangen benzinfressenden Parkplatzsuche. Und um unter all den Irren und Wirren hier überhaupt noch aufzufallen, muss man zu extremen Mitteln greifen wie der Kriminalschriftsteller Jürgen „Ali“ Alberts (Hutträger!), wie Ex-taz-Redakteur und Regierungssprecher Klaus Schloesser (Alfa Romeo!) oder Stilblütenschmied Karl-Heinz-Otto Schäfer (Hausmeisterkittel plus Perlenkette!). Trotzdem gibt es unerklärlicherweise immer viel mehr Leute, die rein wollen ins Toreviertel, als solche, die raus wollen. Grundsätzlich gilt: Musiker, Film- und Theaterleute, Professoren, Rechtsgelehrte, Kunstschaffende, Zeitungsleute und Buten-&-Binnen-Mitarbeiter wollen rein. Beziehungsweise müssen rein. Normale Bürger sucht man hier vergebens.

Eine Ahnung, wie normale Bürger zumindest riechen und schnattern, befällt uns bei Aldo. Das Eiscafé am Dobben beherbergt allmorgendlich die Schülerinnen der angrenzenden Kosmetikschule, die so offensiv riechen und schnattern, dass Ortsansässige sich gern den Kaffee nach draußen reichen lassen. Die Chance, normale Menschen kennenzulernen, wird so vertan. Die Gefahr ist groß, dass Toreviertler nur noch mit ihresgleichen verkehren bzw. Verkehr haben, und in wenigen Generationen werden im Toreviertel seltene Erbkrankheiten zu behandeln sein. Womöglich wird es dann – Gott behüte! – die ersten wirklichen „Viertel-Bewohner“ geben. Text: Burkhard Strassmann

Fotos: Laura Marina