Der nachhaltige Riese

Mit 26 Millionen Einwohnern hat Tokio den größten Ballungsraum der Welt. Und trotzdem ist Tokio kompakt, traditionell und modern zugleich. Und im Vergleich zu den USA und Europa sogar innovativ

aus Tokio FRANK ROOST

Modebewusste Japanerinnen zieht es derzeit in die 160 Bekleidungsgeschäfte des Tokioter Einkaufszentrums „Venusfort“, dessen Inneres mit Marmorböden und Stuckfassaden einer italienischen Renaissancestadt nachempfunden ist. Dazu gibt es Hundegebell und Glockengeläut vom Tonband sowie jede Stunde einen simulierten Sonnenuntergang.

Dieses Shoppingcenter ist nur eines von vielen neuen konsumorientierten Großprojekten in Tokio. In den Achtzigerjahren waren wegen des Wachstums der Finanzindustrie vor allem Bürobauten errichtet worden, doch dieser Boom fand mit dem Platzen der „bubble economy“ Anfang der Neunzigerjahre ein abruptes Ende. Auf der Suche nach Alternativen haben Bauunternehmer nun Einkaufs- und Freizeitzentren entdeckt, deren Erfolg angesichts der schon immer hohen Ersparnisse der Japaner weniger konjunkturabhängig ist.

Auch die privaten Bahngesellschaften, die Tokios Immobilienmarkt und Einzelhandel beherrschen, folgen diesem Trend. Um sich ein weiteres Geschäftsfeld zu erschließen, haben sie am Ende der Strecken Vergnügungsparks gebaut. Mittlerweile gibt es in Japan über hundert solcher Parks, darunter den mit jährlich 16 Millionen Kunden meistbesuchten der Welt, Tokio Disneyland.

Aus dieser Entwicklung darf man jedoch nicht den Schluss ziehen, dass sich die japanische Lebensweise der amerikanischen angleichen würde. Japans Verwestlichung bleibt oberflächlich, meist werden nur bestimmte Moden übernommen und adaptiert. Das zugrunde liegende Sozialverhalten entspricht aber japanischen Eigenheiten und Traditionen. So resultieren die Profite von Tokio Disneyland unter anderem daraus, dass sich die Kunden zum Kauf überteuerter Souvenirs gezwungen fühlen. Denn in Japan ist Tradition, von einem Ausflug Omiage genannte Geschenke für Familie, Kollegen und Nachbarn mitzubringen.

Ebenso erklärt sich der Einzelhandelsboom daraus, dass das Leben der meisten japanischen Frauen auf häusliche Tätigkeiten beschränkt ist. Eines der wenigen Privilegien dieses Rollenmodells ist, dass die Frauen auch die Familienfinanzen übernehmen. Diesen Umstand macht sich der Handel zunutze, wenn nun mit für Frauen konzipierten Einkaufszentren versucht wird, deren Kaufkraft abzuschöpfen.

Dieses für die japanische Kultur charakteristische Prinzip einer nur oberflächlichen Verwestlichung prägt auch die Stadtstruktur von Tokio, das trotz moderner Gebäude sein traditionelles Grundgefüge bewahrt hat. Auch der Bau neuer Freizeitanlagen bedeutet nicht die Amerikanisierung Tokios. In den USA sind Einkaufszentren und Freizeitparks wichtige Aufenthaltsbereiche, weil es in den autogerechten Vorortlandschaften kaum noch herkömmliche urbane Räume gibt.

In Tokio ist es genau andersherum, denn hier erklärt sich der Erfolg der Erlebniswelten aus der extremen Dichte. Fast ganz Tokio weist eine Kleinteiligkeit und Mischung auf, die in den Metropolen anderer Industrieländer höchstens im Altstadtkern zu finden ist. Die Stadt ist bestimmt vom Gegensatz zwischen den quirligen Büro- und Geschäftsvierteln rund um die großen Bahnhöfe und den schmalen Seitengassen mit Wohnhäusern und kleinen Betrieben. Im Auto ist kaum Vorankommen. Das bei weitem wichtigste Verkehrsmittel ist die Bahn, mit der über 80 Prozent aller Wege erledigt werden. Selbst die Vororte sind vollständig auf die Bahn ausgerichtet.

Die Kehrseite dieser Stadtstruktur sind die beengten Wohnverhältnisse. Kinder leben meist bis zu Ihrer Hochzeit bei den Eltern, oft wohnen drei Generationen unter einem Dach. Diese Dichte führt auch dazu, dass bestimmte soziale Funktionen aus dem Haushalt ausgelagert werden. Das zeigt sich an den traditionellen Badehäusern, zu denen die Bewohner der umliegenden Viertel in Kimono und Sandalen schlurfen.

Hinzu kommen die „Love Hotels“, die sich an jedem Bahnhof finden. Hier mieten sich junge Leute oder ältere Ehepaare ein, um die Privatsphäre zu finden, die es zu Hause nicht gibt. Die Pachinko-Spielhallen dagegen dienen mit ihren Groschengräbern der Funktion „Alleinsein“. Die anonyme Atmosphäre bietet eine seltene Gelegenheit, der Enge von Arbeits- und Familienleben zu entfliehen.

Doch nicht nur in Japan, auch in anderen Ländern nimmt die Bedeutung von neuen Freizeitzentren zu. Dabei wird es aber immer schwieriger, die verschiedenen Einrichtungen noch auf kurzen Wegen zu erreichen. Stattdessen setzt sich das Modell der „Patchwork City“ durch, in der die meisten Bewohner zwischen den getrennt liegenden funktionalen Bereichen hin- und herspringen, während das Wohnviertel nur noch als Schlafort dient.

In den USA hat dies zu einer Auflösung der Stadt geführt, weil die Nutzungsinseln nur noch mit dem Auto erreichbar sind. In der Bundesrepublik wird seit einiger Zeit versucht, diesem Trend das Modell der „europäischen Stadt“ entgegenzusetzen. Trotz der hehren Absichten erschöpft sich dieser Weg aber oft in gestalterischen Oberflächlichkeiten wie in der Daimler-City am Potsdamer Platz in Berlin, wo Shopping Mall und Urban Entertainment Center in Terrakotta-Fassaden gezwängt wurden, um sie als „ein echtes Stück Stadt“ zu vermarkten.

Das Beispiel Japan zeigt einen dritten Weg, bei dem die Nutzungsinseln durch ein engmaschiges Netz von Bahnen verknüpft und nicht voneinander isoliert sind. Sie überschneiden sich, liegen manchmal nur durch Stockwerke getrennt übereinander und bilden ein vielschichtiges „Urban Pattern“, das mit seiner Dichte und seinem Bahnverkehr ausgesprochen nachhaltig ist.

Angesichts dieser Mischung traditioneller wie moderner Funktionen ist es in Japan auch nicht notwendig, historisierend zu bauen. Tokio zeichnet sich durch eine gestalterische Offenheit aus, die es ermöglicht, neue ästhetische Reize zu entwickeln, bei der Spannungen und Brüche zwischen Tradition und Moderne erlebbar sind. Inszenierte Einkaufswelten werden dagegen ironisch verkitscht, sodass sie auch als solche erkannt werden können.

Aufgrund der kulturellen Besonderheiten und der beengten Wohnverhältnisse kann Tokio kaum ein Modell für westliche Metropolen sein. Aber seine Struktur zeigt, dass es neben dem Schreckensbild der „amerikanischen Stadt“ und dem vergangenheitsseligen Modell der „europäischen Stadt“ durchaus andere Wege gibt, die neuen Trends im Freizeitverhalten mit sozialer Vielfalt, Nutzungsmischung, Dichte und Nachhaltigkeit zu verbinden.