Feinsprit hamstern

Zur Butterfahrt auf der Oder kommen die Fahrgäste zum Schnapskaufen. Der tristen Region bringt das Arbeitsplätze, doch die sind jetzt bedroht

von KIRSTEN KÜPPERS

Es gibt Diät-Speiseöl, Anti-Falten-Creme und Zervelatwurst für 3,99 Mark. Aber in diesem Supermarkt rempeln sich alle nur um Schnaps und Zigaretten. Das Regal mit den „Feinsprit“ Flaschen ist nach wenigen Minuten leer, eine Stange „Golden American“ findet sich fast in jedem Einkaufskorb. Laut schlagen die Wellen gegen die Schiffsluken, die Kunden drängeln sich an der Kasse. Nicht jeder hat es geschafft, eine Flasche mit dem billigen 96-Prozentigen zu erwischen. Ein Mann in einem abgewetzten grauen Anorak schnauft.

Eine Butterfahrt macht man nicht zum Spaß, sondern um Geld zu sparen. Zloty oder D-Mark. Darum geht es auf diesem Dampfer, der stündlich zwischen dem 150 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegenen uckermärkischen Gartz und dem Grenzort Gryfino auf der polnischen Seite der Oder verkehrt. Da die Europäische Union vor einem Jahr den zollfreien Handel auf Nord- und Ostsee per Dekret verboten hat, weichen die Veranstalter von Butterfahrten zunehmend auf den deutsch-polnischen Grenzverkehr aus. Hier ist der zollfreie Verkauf an Bord weiter erlaubt. Über Oder und Neiße verläuft die EU-Außengrenze.

Carmen Pechmann, Serviererin an Bord des Gartzer Schiffes, mag den Ausdruck „Butterfahrt“ jedoch nicht. Ihr ist der Ausdruck „Dampferfahrt mit zollfreiem Einkauf“ lieber. Freilich sind nur wenige Passagiere auf dem Schiff, die wirklich ein Ausflugserlebnis genießen, wie das klingende Wort „Dampferfahrt“ assoziieren lässt: Ein kleines polnisches Alkoholikergrüppchen an Deck prostet sich gut gelaunt mit Bierdosen zu. Ein Berliner zeigt dem Verwandtenbesuch aus Westdeutschland durch ein Bugfenster die verregneten Ufer des Nationalparks Unteres Odertal.

Die Einkaufsfahrten auf dem Wasser sollen als „Türöffner für den Tourismus in der Region“ fungieren, sagt Silke Kunath, Betriebsleiterin der Insel- und Halligreederei „Adler-Schiffe“ in Gartz. Denn spätestens wenn Polen der EU beitritt, ist der zollfreie Einkauf auf Butterschiffen nicht mehr möglich. Dann will die Reederei reine Ausflugsfahrten in die bisher nicht gerade mit Fremdenverkehr gesegnete Region anbieten.

Die meisten der 78 deutschen und polnischen Fahrgäste auf dem Schiff sind indes zur routinemäßigen Hamsterfahrt hier. Eine Arbeitslose aus der Gartzer Region kauft sich ihren wöchentliche Zigarettenvorrat. Der 25-jährige Jaroslaw Poteralski fährt zweimal die Woche zwischen Gryfino und Gartz hin und her, weil er Schnaps besorgen muss. Er feiert im September Hochzeit. Die Familie rechnet mit 60 Gästen, auf jede Person kommt ein halber Liter Wodka. Eine Flasche 96-pProzentiger „Feinsprit“ mit Früchten und Wasser verdünnt entspricht etwa drei Flaschen Wodka, erzählt Jaroslaw. „Feinsprit“ kostet im Duty-Free-Supermarkt des Schiffes 4,99 Mark. In Polen würde Jaroslaw mindestens das Vierfache bezahlen. Weil er laut Zollbestimmungen nur einen Liter hochprozentigen Alkohol pro Fahrt frei mitführen darf, muss Jaroslaw sein Hochzeitsgetränk in Raten nach Hause schaffen. Auch die zwei polnische Rentnerinnen, die mit am Tisch sitzen, decken sich auf diese Weise für Namenstage in der Familie mit Alkohol ein.

Alles Menschen mit viel Zeit. Nur Arbeitslose, Rentner und einige wenige Ausflügler können unter der Woche eine dreistündige Dampferfahrt unternehmen. Eine Fahrkarte kostet drei Mark

Wie lange die Butterschiffe vom Grenzstädtchen Gartz noch ablegen, ist jedoch ungewiss. Nicht nur der bevorstehene polnische EU-Beitritt kann den Fahrten eine Ende bereiten, sondern auch das zuständige Bundesgrenzschutzamt in Frankfurt (Oder). Zunächst hat das Amt die Genehmigung zur Passkontrolle auf den Schiffen noch bis zum 30. September erteilt, allerdings mit sofortigem Widerspruchsrecht.

Vorrausgegangen ist dem ein heftiger Streit zwischen den Gartzer Bürgern und dem Frankfurter Bundesgrenzschutzamt. Das Amt hatte 1998 die Genehmigung zur Grenzabfertigung in Gartz nur für zwei Jahre erteilt. Bis dahin sollte der zehn Kilometer entfernte Grenzübergang Mescherin saniert sein. Am 30. Juni ist die Ausnahmeregelung für Gartz abgelaufen. Als der Bundesgrenzschutz im Frühjahr ankündigte, diese nicht zu verlängern, gab es massive Proteste der Gartzer Bevölkerung. Eine Einwohnerversammlung in der Kirche wurde einberufen, die Gartzer malten Transparente. In der tristen Region herrscht 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Gartzer fürchten um die Arbeitsplätze, die der Grenztourismus nach Polen geschaffen hat. Durch die über eine Million Duty-Free-Reisenden der letzten zwei Jahre seien mehr als 50 Arbeitsplätze vor allem für Frauen entstanden. Sie arbeiten im Bordrestaurant, im zollfreien Supermarkt, im Reedereibüro oder in gastronomischen Betrieben in Gartz, sagt Silke Kunath.

Täglich starten drei Schiffe der Adler-Reederei von Gartz in Richtung Oder, Szczecin (Stettin) und Gryfino (Greifenhagen). Weitere drei Schiffe fahren für den Konkurrenten „Oderhaff Seetours“ von Mescherin aus. Dazu kommen polnische Reeder mit mehreren Schiffen und Linienfahrten. Eine Testfahrt habe ergeben, dass die Kapazitäten für eine Abfertigung all dieser Schiffe in Mescherin nicht ausreichen. Schon jetzt kommt es häufig zu langen Wartezeiten, beschwert sich Kunath.

Am 20. Juni spitzte sich die Auseinandersetzung zu. 17 Gartzer, darunter der Gartzer Amtsdirektor, die Bürgermeisterin, Stadtverordnete, Reederei-Angestellte, der Betreiber des Eiscafés und andere Betroffene reisten nach Frankfurt (Oder) und traten vor dem Grenzschutzamt in einen Hungerstreik. Die Aktion hatte Erfolg. Bereits nach wenigen Stunden kündigte das Grenzschutzamt an, die Angelegenheit zu prüfen. Die Genehmigung zur Grenzabfertigung wurde um drei Monate verlängert. Aber auch das ist für die Gartzer „nur ein Schwebezustand, der jede langfristige Planung und Investition unmöglich macht“, schimpft Kunath.

Was ab Oktober wird, weiß auch Serviererin Carmen Pechmann nicht. „Behördenschikane“ nennt sie das Verhalten des Grenzschutzamtes. Sie würde auch ein zweites Mal in Hungerstreik treten, um ihren Arbeitsplatz zu retten. Derweil serviert sie an Bord noch das Tagesmenü: Leber mit Zwiebelfett und Kartoffelbrei zu acht Mark fünfzig. Den polnischen Fahrgästen ist das zu teuer. Aus dem Lautsprecher tönt „La Paloma – ohe“. Zwei Frauen vertreiben sich die Langeweile mit einem Kreuzworträtsel. Ein Mann schläft im Sitzen. Viele rauchen oben an Deck. Ein vorbeifliegender Reiher wird nicht beachtet, man starrt vor sich hin.

Bei der Rückkehr nach Gartz schieben sich die Passagiere im Nieselregen am Zollcontainer vorbei. Zwei Zöllnerinnen kontrollieren die Plastiktüten. Ein junger Pole wird erwischt. In einer Persil-Packung hat er drei Flaschen Schnaps und eine Stange Zigaretten versteckt. Durch die Menge geht ein anerkennendes Raunen.

Hinweise:Ein Mann im abgewetzten grauen Anorak schnauft. Eine Butterfahrt macht man nicht zum Spaß, sondern um Geld zu sparen. Zloty oder Mark.Carmen Pechmann würde noch einmal in Hungerstreik treten, um ihren Arbeitsplatz zu retten. Gerade serviert sie an Bord das Tagesmenü.