Damit kann man arbeiten

Goldene Zeiten für Literatur (X): Der Popliteratur geht es um das Recht auf die großen Unterschiede

■ Abfall für alle: Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von GERRIT BARTELS

Eigentlich sind sich alle, die es interessiert und angeht, also Publikum und professionelle Leser, einig, dass sich in den letzten zwei, drei Jahren eine Menge Gutes getan hat in der so genannten jungen und neuen deutschen Literatur. Einen großen Störfaktor aber gibt es, und mit dem weiß anscheinend niemand so richtig umzugehen: das Neue-Deutsche-Literatur-Sublabel „Popliteratur“ und seine Repräsentanten. Diese Literatur wird mal als „Phänomen“, mal als „Gespenst“ bezeichnet, vor allem aber wird sie von denen, die dann doch finden, dass es mit der aktuellen deutschen Literatur alles andere als zum Besten bestellt ist, als Lieblingsfeind an den Pranger gestellt.

Also lästerte Wolfgang Höbel im Spiegel schon vor zwei Jahren in einer Überblickskritik über den „Irrsinn um den Pop-Wahn“ und orakelte, der Pop-Roman verbreite „Mitleid und Schrecken im ganzen Leseland“. Also sprach der Schriftsteller und Mittvierziger Matthias Politycki in einem taz-Interview von „neuer deutscher Plattheit“ und „Spartenliteratur für Teenager“ und führte das später an dieser Stelle noch aus, in dem er stellvertretend für die Popliteratur Christian Krachts „Faserland“ einordnete als „stilistisch so aufregend wie eine Novellensammlung des Herrn Schlink: präpräprämodern von A nach B im bravsten Dudendeutsch erzählt“. Also nahm sich Maxim Biller in Tutzing die „Anhänger des Pop“ vor und nannte sie „die schlimmsten, verschwiegensten aller Systemopportunisten, die nie die großen Kämpfe schlagen werden“. Davon ausdrücklich ausgenommen: Christian Krachts „Faserland“, das Biller als „künstlerisch konsequent“ bezeichnete und dessen Helden „fast archaisch anmutenden Hass auf unser Luxusdeutschland“ er lobte.

Machen allein die sehr unterschiedlichen Beurteilungen im Fall von Christian Kracht stutzig – Schund oder Kunst? –, so wundert man sich über die Verve, mit der da Hohn und Spott ausgekübelt und auch gezielt angegriffen wird. Was haben die Popliteraten den Herren Höbel, Politycki und Biller bloß getan (oder eben nicht getan)? Vor allem aber, immer wieder unklar: Wer sind denn nun eigentlich die Popliteraten? Was zeichnet sie aus? Wie kommt der Pop vor und in die Literatur? Reicht allein die Jugendlichkeit? Da sind dann alle Schriftsteller unter 35 Pop. Muss ganz viel Popmusik in den Büchern drin sein? Dann ist es Benjamin v. Stuckrad-Barre. Muss es um Techno gehen? Also wie bei Kathrin Röggla oder auch Rainald Goetz. Sind es die Schreibweisen? Dann sind das Thomas Meinecke oder Andreas Neumeister. Oder ist ein Popliterat doch einfach nur jemand, der sich am besten zu verkaufen und zu inszenieren weiß? Also das „popkulturelle Quintett“ mit seinem „Tristesse Royale“ und anderen Büchern.

Wenn Matthias Politycki schreibt, „nichts, aber auch gar nichts an der neuen deutschen Plapperprosa ist Pop, umgekehrt wäre dann ja auch Verena Feldbusch eine Repräsentantin der Gegenwartsliteratur“, dann aber doch in einem fort polemisiert gegen „Selbststilisierung“, „Imagepflege“ und den geschickten Umgang der Popliteraten mit den Medien, scheint die Verwirrung komplett zu sein. Doch auch Matthias Politycki geht es um diesen Pop und jenen Pop, um Pop I und Pop II, um es mit Diedrich Diederichsen zu sagen. Auf der einen Seite den der Sechziger bis Achtziger, wo Pop Gegenkultur, Widerstand, Dissidenz bedeutete, aber auch Affirmation, Warenförmigkeit, Flüchtigkeit. Und auf der anderen den der Neunziger, wo Pop als „Dummy-Term“ im Einsatz ist (Diederichsen) und von eben Verona Feldbusch über Hello Kitty bis zu Jürgen Möllemann alle irgendwie Pop und Popstars sind.

Das ist der „Irrsinn um den Pop-Wahn“, den Höbel eigentlich meint, das ist das Unbehagen an der Popkultur und der Spaßgesellschaft im Allgemeinen, das sich da Bahn bricht, die Schwierigkeiten mit der Repräsentation von Pop: Wer spricht hier noch für oder gegen was? Spricht da überhaupt noch jemand?

Und, zurück zur Literatur, Politycki passt es natürlich nicht, dass die Popliteraten seine Forderung aus dem Essayband „Die Farbe der Vokale“, Literatur müsse sein wie Rockmusik, „wie die No-name-Combo aus Rosenheim, die vor 30 Zuhörern – nicht etwa um die Abendgage spielt oder den Applaus, sondern: um ihr Leben“, so ganz anders auslegt.

Ja, die haben es heute alle viel zu leicht, diese Schlingel, und dann stellen sie ihre Arschlochhaftigkeit und ihr Schnöseltum auch noch an einem Kaminfeuer im Hotel Adlon aus, ohne „eine ernst zu nehmende Haltung zur Popmusik vorzuweisen“ (Politycki)! Doch die „Pop-Schnösel“ wissen genau, was sie tun, wenn sie sich auf diese Art und Weise vermarkten und ihren Weltekel zur Schau stellen. Offene Türen haben sie eingerannt, Reaktionen wie diese von Reinard Mohr und Henryk M. Broder im Spiegel provoziert: „So ergeht es einer Generation, die in Frieden und Überfluss vegetiert, Krieg nur noch aus der Tagesschau kennt und dankbar ist für jeden Amokläufer, der ein wenig Abwechslung in die Diskussion um den Ladenschluss und das ‚Gucci-Re-Modeling‘ bringt“. Kulturpessimismus und Generationenkonflikte galore! Doch eigentlich bringt „Tristesse Royale“ das Unbehagen seiner Kritiker an der Popkultur genau auf den Punkt: Pop, wie wir ihn kennen, ist tot, weil alles Pop ist. Jeder Widerstand zwecklos. Das ist natürlich sehr resignativ, auch weil die Jungs am Ende des Buchs in einer Filmkulisse verschwinden.

Allerdings, was gern übersehen wird, verweist das Auftreten „des popkulturellen Quintetts“ direkt in die frühen Achtziger, beispielsweise auf Bands wie ABC und Heaven 17. Nach Punk holten die plötzlich die Anzüge aus dem Schrank, posierten mit diesen auf Plattencovern und produzierten mit Hilfe von Synthesizern Popmusik: Subversion durch Stil bedeutete das, Widerstand durch Affirmation, das „große Ja in der modernen Welt des permanenten Nein“, um Thomas Meinecke zu zitieren, einen Popliteraten der alten Schule, wenn man so will. Groß geworden in den Achtzigern und alles andere als verzweifelt, was die Neunziger und Nuller anbetrifft: „Mit Pop kann man heute noch arbeiten. Man muss nur wissen, dass Tony Blair kein Pop ist“, hat er neulich in Berlin auf einer Lesung gesagt. Es geht also noch immer und immer wieder um Differenz, auch beim popkulturellen Quintett, Schnöseltum hin, Resignation her: „We just want the right to be different“, hat Jarvis Cocker von Pulp 1995 auf ein Plattencover geschrieben.

Neulich war Benjamin v. Stuckrad-Barre zusammen mit Eckhard Nickel und Christian Kracht in Darmstadt, wo er vor ausverkauften Haus – „nur gute Leute“, wie ein Freund berichtete, – las und seine beiden Mitstreiter irgendwann auf der Bühne Poster und CDs von Stefan Raab verbrannten oder zerstörten. Da ging es dann nicht um Mode und Styles, um Minimal-Techno oder Ambient-Techno, also um die kleinsten Verästelungen, sondern um die großen Unterscheidungen: Stefan Raab ist eben kein Pop! Da heißt es gegenzuhalten. Natürlich auch mit dessen Mitteln, also Inszenierung, Wahn und Schein: „Don’t believe the hype!“ Ob der nun Raab oder Stuckrad-Barre heißt. Doch zu prüfen, ob das „Soloalbum“ ein gutes oder schlechtes Buch ist, bleibt Publikum und Kritik noch immer selbst überlassen, Medien-Inszenierung hin, Verlagswerbung her.

Zumal der Hype um die Popliteratur noch anderes im Schlepptau hat. Ein Buch wie David Wagners „Die nachtblaue Hose“, ein Buch am „Ende der Pop-Literatur (SZ), hätte wahrscheinlich in den Jahren vor dem „Pop-Wahn“ nie die Aufmerksamkeit (inklusive der Verkäufe) bekommen, die es so oder so verdient. Wagners Held ist zwar einer, der es mit Rebellion nicht so hat und vergeblich versucht, zumindest bei einer 1.-Mai-Demo mal so zu tun als ob. Doch das Buch ist weit davon entfernt, Spartenliteratur minderer Güte zu sein. Antipop, ein vielschichtiger Tanz auf Oberflächen, komplex konstruiert und trotzdem lesbar. Und so wie ein Stuckrad-Barre einen Wagner in der öffentlichen Wahrnehmung mit anschiebt, hat er auch einen Florian Illies auf den Plan gebracht. Der hat einfach das „Soloalbum“ nochmal als Sachbuch und formvollendet erzählt herausgebracht und mit kühlem Kalkül „Generation Golf“ drüber geschrieben. Wer da wohl Nirvana ist und wer die Stone Temple Pilots? Wer Illies’ „Generation Golf“ gelesen hat, findet dann Stuckrad-Barres „Soloalbum“ gar nicht mehr so langweilig, belanglos oder auch falsch.

Früher, als Teenager und früher Twen, habe ich auf genau solche Bücher, auf Popliteratur, immer gewartet. Da hat man gelesen, was bei den Eltern im Schrank stand, die Klassiker, Thomas Mann, Uwe Johnson, Marcel Proust. Was toll war. Da hat man sich aber auch gefragt, was man mit einem Buch wie „Unkenrufe“ von Grass, in allen Feuilletons groß besprochen, eigentlich sollte. Was ein Buch wie Martin Walsers „Brandung“ mit meinem, unserem Leben zu tun hatte? Nichts, und die nächste Frage war dann: Wann schreibt endlich mal einer über uns, so wie wir leben, uns langweilig ist, wie wir trinken, Drogen nehmen, Popmusik hören usw. Das mussten ja nicht gleich Klassiker sein.

Da war man dann schon froh, dass man irgendwann eine Achtzigerjahre-Anthologie wie „Rawums“ entdeckte, wo der Herausgeber Peter Glaser in seinem Vorwort ordentlich auf die Siebziger und ihre Betroffenheitsliteraten schimpfte. Die Texte waren bis auf wenige Ausnahmen nicht so berühmt, doch darum ging es auch nicht. Lieber Joachim Lottmann mit „Mai, Juni, Juli“ (oje!) oder Diedrich Diederichsen mit „Herr Diederichsen“ (noch ojer) als Grass und Walser.

Mit der Popliteratur hat man es heute ungleich besser. Und Ansprüche auf „Qualität“, auf „schlecht geschrieben“, auch auf die Ernsthaftigkeit, ein Schriftsteller zu sein und „um sein Leben“ zu schreiben, stellen sich da erst mal nicht. Wo es sowieso ein Paradoxon ist, Literaten, denen man Pop attestiert, bei Missliebigkeit gleich mit dem Handwerk zu kommen: Brett Anderson von Suede fragt auch keiner, ob er gut Gitarre spielen kann. Oder ob er nun wirklich singen kann.

Weswegen auch der Trailer dieser Reihe auf Abwege führt: Schnell geschrieben, schnell gelesen, schnell vergessen. Ersteres bleibt das Geheimnis eines jeden und sagt sowieso nichts über die Qualität aus – nur ein Name dazu: Georges Simenon, ein Großmeister des psychologischen Thrillers, der seine Non-Maigrets innerhalb einer Woche schrieb.

Doch das mit dem schnellen Lesen und dem schnellen Vergessen ist nun mal Pop-immanent. Pop hat zwar ein Langzeitgedächtnis, siehe Zitat-Pop, siehe Samples, Pop ist aber eben auch flüchtig, hat nie den Anspruch auf Ewigkeit. Dass muss so sein, das ist ja das Schöne. Denn die nächste Single kommt bestimmt, und sie dauert – hoffentlich – nur drei Minuten.