: Strandgut neben Stammtisch
Wahre Lokale (27): die von dicker Luft verhangene „Parkgaststätte“ in Tübingen
Reisende, Obacht! Wer in Tübingen ankommt, schwebt stets in der Gefahr, auf unsaubere Geister zu stoßen. Sie fassen arglose Besucher distanzlos am Rockzipfel, weisen entweder mit erhobener Stimme auf ihre „letzte bedeutende Rede“ zu dem und jenem dummen Zeug hin oder sondern anspruchstriefende Anekdoten aus der Geschichte einer Stadt ab, die mit ebenso vielen „Hier wohnte der Dichter“-Tafeln ausstaffiert ist wie der Wochenendhut des Vorsitzenden der Ortsgruppe Ostmettingen des Schwäbischen Albvereins mit blechernen Wanderplaketten.
Ja, hier „lebten und arbeiteten“ sie selbdritt in ihrer „Ochsenstall“ geheißenen Studentenbude im Evangelischen Stift, Hegel, sich heimlich in verrufenen Lokalen „sein bisschen Verstand absaufend“, Hölderlin von „Klopstocksgröße“ träumend und Schelling als Hoffnungsträger einer umfassenden Welterkenntnis, der Kultstatus genoss wie heutzutage Zlatko Trpkovic für das gerade Gegenteil. Es soll Leute geben, die sich immer noch für diese Stadt interessieren, obwohl das Nachtleben, vor allem in den „stilvollen Studi-Kneipen“, nur an der Hand eines erfahrenen Lebensmüdenbetreuers zu ertragen ist.
Regioshuttle-Nutzer aus Richtung Stuttgart oder Ulm haben einen Vorteil gegenüber Autofahrern, die aufgrund rigoroser Parkraumbewirtschaftung wochenlang umherirren. Sie brauchen nur den Bahnhof zu verlassen, die Straße zum Europaplatz zu überqueren und in der „Parkgaststätte“ einzukehren. Wer nicht auf dem Bildungskriechfett in den buckligkrummen Gassen ausrutschen will, bleibt vielleicht besser gleich hier hocken.
So wie einige andere Gestalten, die schon seit Jahren auf den Barhockern vor der Theke festgewachsen scheinen, hinter der ein ungeheurer Aufbau aufragt, der in jedem Zoologischen Garten locker als Affenfelsen Dienst tun könnte. Der Bau stammt aus den Sechzigerjahren, der damals verantwortlichen Architekturknalltüte ist man heute schon wieder dankbar, im Angesicht dessen, was jetzt im Umfeld dieses Platzes baulich alles möglich ist. Auch der „Parkgaststätte“ droht die Abrissbirne der Bauherrenmodell-Plattmacher. Immerhin: Beim Landesamt für Denkmalschutz soll es in gewissen Kreisen Überlegungen geben, den Flachdachbau in die Liste schützenswerter Gebäude aufzunehmen.
Die Chance, hier auf Professoren, Akademische Oberräte oder durchreisende Bezirksvertreter für Herrenunterwäsche zu treffen, tendiert gegen Null. Sie werden wahrscheinlich abgeschreckt von der Menge krasskonkreter Kids, die vor der Kneipe, auf dem Treppengeländer hockend, ihre Jugendzeit abreißt, hergelockt vom Dumpingpreis für die Dönerbrottüten, die hier feilgeboten werden. Nein, Inge und Walter Jens sitzen nie in der „Parkgaststätte“ traulich beisammen, um ihren Hagebuttentee zu nehmen und Ingwerkekse zu mümmeln. Vielmehr tauschen sich in froher Runde lebenslustige Postobersekretärswitwen mit Bauhofpensionären über die Problematik brennender Füße aus, wobei man etliche Viertele Trollinger wegsippelt. Die liebe Elli, der laute Emil, der Hans und seine Grete. Das hat den Charakter einer orthopädischen Anstalt für Menschenseelen. Man trinkt, säuselt, lallt, krakeelt und hat sich lieb.
Eine Stammgastgesellschaft, aber keine geschlossene. Die Wirtsleute sind Türken. Sie halten den Laden zusammen, unterstützt vom Opa und der handfesten Bedienung Inge. Jeden Dienstagabend trifft sich am größten Tisch oder draußen im wunderschönen Hinterhofgarten der Stammtisch „Unser Huhn“, dessen Mitglieder sich „lieber zum so genannten Strandgut unserer Zeit gesellen als mit Weltgeistfilzläusen über Küngsches Weltethos oder Wimsche Kameraführung zu diskutieren“. Seit vielen Jahren sind das Wirtsehepaar und der Stammtisch symbiotisch verbandelt. In drei verschiedenen Gaststätten von ähnlichem Charakter, immer in Bahnhofsnähe, hat man viel Lebenszeit miteinander verbracht. Jetzt will man gemeinsam uralt werden, bei Weizenbier und feiner türkischer Kuttelsuppe.
Der Stammtisch ist ein Haufen von Leuten, die mit ihren Büchern und Veranstaltungen in der Stadt als „Satiriker“ gelten, die „hart an der Unterkante des Sinns“ operieren, weil sie unter anderem nicht nachlassen, jenen übergroßen Teil der Bevölkerung weidlich zu verhöhnen, der die hier ansässigen Uwe Kolbe und Peter Härtling für hohe Dichter, Gert Ueding und Karl-Josef Kuschel hingegen für tiefe Denker hält. An sich ist der Stammtisch, wie alle in der „Parkgaststätte“, aber herzensgut. Der umnachtete Hölderlin, der vor den Metzgershunden seinen Hut zog, würde hier mit Handschlag empfangen. Sogar Staatsrat Hegel und der olle Spekulationsaugust Schelling könnten Aufnahme finden. Wenn sie denn das Maul hielten.
JÜRGEN JONAS
Hinweis:Wer nicht auf dem Bildungskriechfett in den buckligkrummen Gassen ausrutschen will,
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen