intershop
: WLADIMIR KAMINER über ein Trendthema

Russische Mafia

Ein Radiojournalist aus Bremen ruft mich an. Er heiße Giuseppe und möchte ein Interview mit mir für einen längeren Beitrag zum Thema „Russen in Berlin“. Das scheint in diesem Sommer ein Trend zu sein. Wir treffen uns im Foyer des Russischen Hauses – auf diese Weise will Giuseppe zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – nach dem Gespräch kann er hier weitere Interviews einsammeln.

Giuseppe denkt ganz naiv, dass er seine Recherche schlau eingefädelt hat. Dabei ist er der fünfte Medienvertreter in diesem Monat, der mich zum Thema „Russen in Berlin“ befragen will. Und alle wollen sich natürlich im Russischen Haus verabreden, damit sie dort gleich weitermachen können. Sie haben eine Liste mit Namen von Leuten, die darauf spezialisiert sind, als in Deutschland lebende Russen befragt zu werden. Auch die Fragen sind längst bekannt: bis auf die letzte peinliche Frage.

„Und nun meine letzte Frage“, sagt Giuseppe und holt ein weißes Tuch aus der Hosentasche. „Ich muss mich entschuldigen, aber . . . wabawaba“ – weiter undeutlich. „Komm schon, Mann,“ denke ich, „mach es nicht noch peinlicher, als es ohnehin ist.“ „Also . . . was meinen Sie, gibt es eine russische Mafia in Berlin?“ Jetzt ist es raus. Wir sitzen nebeneinander und genieren uns ein wenig. Das ist Tradition geworden – die letzte Frage müssen wir gemeinsam überstehen. „Wo kommen Sie her? Aus Kalabrien? Und wie steht es dort mit der italienischen Mafia?“, versuche ich einen Witz zu machen. Haha, nicht lustig, eher albern.

„Du versuchst alles mit dem Verstand zu begreifen, kannst es aber nicht fühlen, weil du doch kein richtiger Russe bist“, sagte vor zehn Jahren ein Moskauer Theaterregisseur, als wir einmal über russische Kunst philosophierten.

Der Ursprung jeder Paranoia ist die Angst, etwas Wertvolles zu verlieren. Diese Angst ist oft der einzige Beweis, dass man überhaupt etwas Wertvolles besitzt – das man lebt. Was wären unsere ganzen Werte, wenn keiner außer uns einen Pfifferling dafür gäbe. Eine Bedrohung muss her – ein dunkle fremde Kraft, am besten aus dem Wald. Wie sie heißt, ist völlig Wurscht, irgendetwas mit Kriminalität ist immer gut. Unsere Stammhirne sagen uns: „Der Fremde ist ein Feind. Er will dir dein Territorium, deine Braut und dein Essen wegnehmen, dich selbst womöglich umbringen.“

Daher auch die Russische Mafia. Sie kommt von überall. Nicht nur aus Bild oder B.Z., sondern auch von den „Berliner Seiten“ der FAZ, einer im Grunde seriösen Zeitung. Sie winkt freundlich mit den Pfötchen und macht dem Bürger Angst. Der Journalist hat sich viel Mühe gegeben, um aus dem simplen Fall von zwei Kleinkriminellen eine Russenmafia-Geschichte zu basteln.

Zwei Schurken aus der Ukraine sind wegen Überfall mit Todesfolge verurteilt worden. Sie haben die Waffen und die Adresse eines geistesgestörten Mannes von zwei deutschen Ganoven bekommen und brachen in dessen Wohnung ein. Als der arme Mann die Gesichter der beiden Ukrainer sah, bekam er eine Herzattacke und starb auf der Stelle. Daraufhin ging ein Riss durch die deutsch-russische Kriminelle Vereinigung. Die Deutschen kriegten Schiss und lieferten die beiden Ukrainer der Polizei aus.

Und nun? Die Russen sitzen im Knast, die Deutschen unterliegen einem speziellen Zeugenschutzprogramm und Andreas Kaiser von der FAZ verkündet aller Welt: Die Russenmafia wird immer schlimmer.

In seinem Artikel kann man erschütternde Einzelheiten erfahren: Die Russen werden als billige Tötungsmaschinen in der deutschen Kriminalszene benutzt, weil sie für fünf Pfennig bereit sind, jeden umzubringen. Schuld daran seien die „erleichterten Einreisebedingungen für Personen aus dem ehemaligen Ostblock“, so Andreas Kaiser.

Da musste ich gleich an meine alte Schwiegermutter denken, die jedes Jahr 1.000 Kilometer von Kislowodsk nach Saratow fährt und dort wochenlang auf dem Bahnhof schlafen muss, um jeden Tag pünktlich um sechs Uhr früh in der Schlange vor dem Deutschen Konsulat ihren Platz einnehmen zu können, und dort 16 Stunden anstehen muss, um ein Besuchsvisum nach Deutschland zu bekommen.

Vor lauter Schreck kann der Journalist nicht mal die Namen der Kriminellen richtig schreiben, obwohl die beiden normal christlich heißen. Aber die schrecklichen Parvel und Fjoeder (eigentlich Pavel und Fjodor) sollen ja nichts menschliches haben.

Das Leben des FAZ-Autors Andreas Kaiser ist aber nun bestimmt in Gefahr. Am besten, man steckt ihn auch in so ein Zeugenschutzprogramm – und lässt ihn nie mehr raus.