Dienstleistung im Wasteland

Spielhölle und Protestlandschaft: Der Urbanismusforscher Mike Davis widmet sich der allmählichen Versteppung der USA – von der atomar verstrahlten Wüste in Arizona bis zum Todestrakt in Marlboro Country. Horrorvisionen in Zeiten von Urban 21?

von JOCHEN BECKER

Der Autor, Dozent und vormalige Lkw-Fahrer Mike Davis ist mit dem Los-Angeles-Klassiker „City of Quartz“ schlagartig bekannt geworden. Titel und Einband des aktuellen Sammelbandes „Casino Zombies“ führen jedoch in die Irre, wenn nun das definitive Buch über die Spielhallen von Las Vegas erwartet würde. Vielmehr windet sich die vom Verlag Schwarze Risse zusammengestellte, von Steffen Emrich und Britta Grell übersetzte Essaysammlung in immer weiteren Spiralkreisen über die Stadt hinweg in Richtung des südkalifornischen Umlands und darüber hinaus. Je länger man sich in die düstere Textsammlung hineinliest, desto klarer zeichnet sich die Richtigkeit des Titel ab: Der Autor skizziert hier ein Urban-21-Szenario in den Tönen von Heiner Müller, wo lebende Leichen und Wiedergänger durchs Schattenreich des Freizeitlandes geistern. In George A. Romeros Horrorfilm „Dawn of the Dead“ von 1978 streifen Zombies durch eine Shopping Mall; nun besuchen sie auch die Spielhölle und die „unbewohnbaren Todeslandschaften“ von Marlboro Country.

Eine Sprengung bildet den Auftakt zum Las-Vegas-Teil: Das legendäre Dunes-Hotel muss dem luxeriösen Bellagio weichen. Martin Scorseses „Casino“ zelebrierte den Abriss des alten Las Vegas, bei dem nicht zuletzt das unheimliche Bündnis aus Mafia, Gewerkschaftsbossen und Spielbankchefs in der Luft zerfetzt wurde. Auf gesprengtem Terrain machen sich nun die familiengerechte Freizeitparkindustrie sowie der Kongress- und Luxustourismus breit. Weder organisiertes Verbrechen noch organisierte Arbeiterschaft scheinen hier mehr geduldet. Nach Jahren der Korruption findet eine schlagkräftige Gewerkschaftsopposition nur mühsam wieder zusammen. Die Arbeitskämpfe der Bediensteten im vorderen Casinobereich enden deshalb häufig mit Massenverhaftungen. Nun stehen aber auch die unorganisierten Angestellten – Zimmermädchen, Küchen- und Reinigungskräfte – gegen Niedriglöhne auf. Bis in die 60er-Jahre hatten farbige Menschen im „unsichtbaren“ Hintergrund ihre Servicearbeit in den Casinos und Hotels zu verrichten und wurden selbst als Gäste nicht eingelassen. Nun sind Latinos die größte Minderheit in Las Vegas und verschaffen sich Gehör.

Streichel-Haie –mitten in der Wüste

Der neu gebaute Themenkomplex Bellagio rund um den aus Norditalien herüberimprovisierten Comer See reiht sich ein in die Kopien anderer Regionen. Auf dem See wird man selbst Wasserski laufen, das Venetian Casino Resort mit Gondeln durchkreuzen können; und im Paradise gibt es Wellen aus Hawaii mit Streichel-Haien. Diese Art „Hydrofetischismus“ und dessen ökologische Folgen interes4sieren Mike Davis brennend: Jeden Tag werden hier pro Person 1.421 Liter Wasser verbraucht – Los Angeles benötigt nur die Hälfte; selten wachsen auf Grundstücken Dauergrünflächen und Pools so sehr in die Breite wie in Las Vegas – mitten in der Wüste.

Der „Wasserkrieg“ um die Ressourcen des Colorado River wird zurzeit zwischen Landwirtschaft und den Metropolen sowie gegen die Natur ausgefochten. Das schillernde Licht über dem nächtlichen Strip oder die eiskalte Aircondition speisen sich aus qualmenden Kohlekraftwerken; der Autoverkehr von jährlich über 30 Millionen BesucherInnen verpestet als Dauerstau zusätzlich die Luft. Für Los Angeles mühsam entwickelte ökologische Standards wurden in Las Vegas schlichtweg verdrängt, so als sei hier noch einmal Boden zu gewinnen.

Parks oder öffentlicher Raum sind dennoch Mangelware; selbst Bürgersteige fehlen zumeist. Stattdessen wachsen gated communities, mit eigener Versorgungsstruktur bis hin zum Krankenhaus und nach Alter, Einkommen und Lebensstil abgetrennten „Dörfern“. In den üblichen Las-Vegas-Reports bleibt auch die Zwillingsstadt North Las Vegas mit seiner verbreiteten Obdachlosigkeit und der höchsten Rate von Menschen ohne Krankenversicherung außen vor. Die „Dauerattacke der Freizeitklasse“ durchwühlt die wüste Umgebung mit Dune Buggies, während nationalistische Wehrsportgruppen die Gegend unsicher machen.

Rasch hat Mike Davis die Stadt verlassen. Clark County mit der Hauptstadt Las Vegas ist als Rentners Paradise, aber auch als Hoffnung für Arbeitslose und Latinos das schnellstwachsende Ballungszentrum der USA. Wöchentlich stoßen tausend NeubürgerInnen hinzu. Waren sie früher aus der Provinz in die Metropolen gezogen, versuchen die „Rezessionsflüchtlinge“ nun in umgekehrter Richtung der Depression von Los Angeles den Rücken zu kehren. Als „Denkmäler der weißen Eroberung und Plünderung“ beschreibt Davis die Staudämme, Casinos, suburbanen Siedlungen, aber auch Bombenabwurfareale, Giftmüllplätze und Gefängnisse. „National Sacrifice Zones“ nennt das Pentagon diese Verwüstungen mitten in der Wüste von Nevada, New Mexico oder Arizona. Doch die weißen Luxussiedlungen wachsen so rasch, dass sie kaum mehr Abstand vom Gifthauch der Deponien und kontaminierten Militärgelände haben. Den Genozid an den indigenen Völkern (Nord-)Amerikas kontrastiert Davis mit deren apokalyptischer Vision einer Befreiung vom weißen Mann, der sich nun selbst vergiftet und atomar verseucht.

Überall ist derZutritt verboten

Militärisch-industrieller Komplex, Knastindustrie, Entsorgungslandschaften, Korruption: Die gleichen Firmen, die staatlich subventioniert diese kontaminierten Todeslandschaften hinterließen, verdienen nun als Giftmüllrecycler an der Entsorgung. Während der „Ökozid der UdSSR“ noch große Aufregung hervorrief, wird die „irreversibel vergiftete Landschaft von Marlboro Country“ geradezu jenseitig totgeschwiegen.

Mühsam durchkämmt Davis das scheinbare Wasteland mit einem ebenso narrativ-anschaulichen wie akribisch-konkreten Stil. Dabei verweist er auch auf neue Reportagebücher, die das Bild heiler Wüstenlandschaften erschüttern. Schon in den 40er-Jahren waren auf den schwarzweißen Landschaften eines Ansel Adams Baggerspuren, Graffitis oder Autobahntrassen zurechtretuschiert. Nun widmet sich eine ganze Generation kritischer Dokumentaristen einer zweiten Natur.

Jenseits der allgegenwärtigen „Zutritt verboten“-Schilder erkundeten Richard Misrach, die AutorInnen Peter Goin, Robert Del Tredici und Carole Gallagher die militärisch-industriellen Sperrgebiete und gaben Berichte der Farmer weiter, nach denen die Wüste mit Bombenteppichen durchsetzt war, Lämmer fünf Beine hatten oder Kühe per Laserstrahlen getötet wurden. Im Supermarkt laufen bleiche Kinder mit Perücken umher, gezeichnet von der Chemotherapie. Die Landschaften des US-Patriotismus wurden zu nationalen Versuchsfeldern. Dagegen formierten sich nun Sitzblockaden oder gemeinsame Kampagnen von AktivistInnen aus den USA und der damaligen UdSSR – „nicht übel für einen Haufen von Cowboys und Indianern im konservativen Nevada und Utah, wo über Jahre jede Kritik an den Militärs als unpatriotisch galt“, resümiert Davis.

Um auch einen Blick in die Gefängnisindustrie zu gewähren, dokumentiert Mike Davis die Knastnotizen seines Brieffreunds Dan Anders: „Ich werde möglichst bald wieder schreiben, sobald ich einen neuen Stift . . . kaufen kann. Das wird ungefähr vierzehn Tage dauern.“ Nach China und den Gesamt-USA steht der Bundesstaat California mit derzeit 150.000 Gefangenen schon auf Platz drei der größten Knastpopulation. Manche meinen, ein Grund für die niedrige Arbeitslosenquote im Jobwunderland USA sei, dass die Überschüssigen als „eigenständige Gefängnisklasse“ weggesperrt werden. Zugleich werben privatwirtschaftlich betriebene Knäste via Internet mit dem Argument sicherer Arbeitsplätze: Hier gibt es keine ungewollte Fluktuation, Streiks werden sofort niedergeschlagen. Während die Schuletats schrumpfen, übertrumpft der „Kerker-Keynesianismus“ in absehbarer Zeit noch das „Agrobusiness“.

Eine wahre Armeevon Gartenarbeitern

Der dramatische demografische Wandel und die Situation der Zuwanderer im Süden der USA bilden den letzten Abschnitt des Buches. Der L. A.-Vorort Arcadia rühmt sich laut einer Volkszählung von 1980, ausschließlich von Weißen bewohnt zu sein. Zugleich jedoch pflegt eine „wahre Armee von hispanischen Gartenarbeitern“ das Gartenreich, und Frauen, die „von ihren Arbeitgebern in der Regel ‚Maria‘ gerufen werden“, halten den Haushalt in Ordnung. Perfide Zonierungsgesetze und rassistisch motivierte Verkehrskontrollen sollten den öffentlichen Aufenthalt und überhaupt Zuzug einer hispanischen Bevölkerung verhindern. Doch die Zeit geht auch an Arcadia nicht vorbei – inzwischen sitzt ein in China geborener Amerikaner im Stadtrat.

Als jüngster Beitrag widmet sich „Magischer Urbanismus“ der Lateinamerikanisierung der USA. Ohne weiteres Aufsehen hatte New Yorks Latino-Bevölkerung vor fünf Jahren die afroamerikanische Population überrundet. Dieser Wandel schlägt sich bislang jedoch weder in den Besitzverhältnissen, einer angemessenen gewerkschaftlichen Unterstützung noch in der politischen Repräsentation nieder. Demgegenüber entwickeln sich zurzeit in der Transitzone zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland „neue kreolische Identitäten“ heraus, an deren Horizont die „Entstehung einer neuen hegemonialen globalen Kultur“ stehen könnte hin zum „panamerikanischen 21. Jahrhundert“.

Hier wird es richtig spannend, wenn der amerikanische Gesamtkontinent eine hybride Verfasstheit gewinnt, die eine durch Billigflüge gestützte Pendelmigration oder Transfers von etwa neun Milliarden Migra-Dollars ebenso antreibt wie auch die fortschreitende wirtschaftliche Verflechtung im Zuge der Nafta. Mit der Herkunftsgemeinde werden Entscheidungen per Nord-Süd-Konferenzschaltung am Lautsprechertelefon kollektiv abgesprochen und diese Bande durch regelmäßige Familienfeiern auch real aufrechterhalten. Zugleich werden Gangmitglieder von ihren Familien in einer Art Selbstjustiz in den Süden strafversetzt, sodass hier inzwischen exportierte Gang-Schlachten gefochten werden. Mike Davis geht deshalb mit den KollegInnen aus der Stadtforschung hart ins Gericht und beklagt völlig zu Recht eklatante Versäumnisse. Gerade in der Schilderung sozialer Bewegungen liegt vielleicht die Hoffnung. Denn neben den Todeszonen existiert auch eine sehr lebendige Protestlandschaft, an der „Bruder Mike“ – so Brieffreund Dan Anders in seinem „Gulag-Tagebuch“ – als reisender Analytiker Anteil nimmt.

Mike Davis: „Casino Zombies und andere Fabeln aus dem Neon-Westen der USA“. Aus dem Amerikanischen von Steffen Emrich und Britta Grell. Schwarze Risse/Rote Straße/VLA, Berlin/Hamburg 1999, 270 Seiten, 32 DM