Herr und Sklave
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von MATTHIAS THIEME

Bestens gelaunt und leicht schwankend stand ich gegen 5.30 Uhr morgens in einem Salon und merkte, dass eine Person energisch ihr Knie in meinen Schritt schob. Es war leider nicht die dunkelhaarige Frau in meiner Nähe, sondern einer der beiden bärtigen Männer, die sie begleiteten. „Du hast eine reizende Begleiterin. Das ist aber auch das Einzige, was mir an dir gefällt“, sagte ich. Die Dunkelhaarige lächelte, das Männerknie zog sich zurück und ich wurde von der jungen Dame aufgefordert, eine nahe gelegene Wohnung aufzusuchen.

Leider kamen die beiden Bärtigen mit und störten schon bald die Unterhaltung, indem sie mir ein Klebeband um den Kopf zu wickeln versuchten, wobei sie „Sklave oder Herr!“ skandierten. „In der autoritären Gesellschaft wird die sadomasochistische Charakterstruktur durch die ökonomische Struktur erzeugt, welche die autoritäre Hierarchie notwendig macht“, erinnerte ich mich schlagartig an ausgerechnet Erich Fromm und wies die beiden Klebeband-Fetischisten darauf hin, dass ich weder Sklave noch Herr spielen wollte, sondern mit der Dame zu sprechen wünschte.

Als Mann Nummer eins mir wiederholt seine bestrumpften Füße entgegenstreckte, zupfte ich an der Sockenspitze und sagte: „Sieht gut aus.“ Wummms, donnerte mir sein Fuß mitten ins Gesicht. „Ruhig bleiben“, sagte meine vernünftige Stimme. Gleichzeitig merkte ich, dass Blut aus meiner Nase tropfte. „Der sadomasochistische Charakter ist so weitgehend derjenige der Mehrzahl der Menschen unserer Gesellschaft, dass er für Forscher, die den Charakter der bürgerlichen Menschen für den normalen und natürlichen halten, infolge der mangelnden Distanz gar nicht zum wissenschaftlichen Problem wird“, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich hatte mehr ein praktisches als ein wissenschaftliches Problem, und so wurde ich für fünf Minuten zur autoritären Sau.

Mit einem kräftigen Stoß ließ ich Mister Tretsocke in die Stereoanlage krachen. Bei seinem erneuten Anlauf musste er feststellen, dass auch fünf Finger eines Geisteswissenschaftlers eine Faust bilden können. Klebebandfesselkünstler Nummer zwei scheiterte ebenfalls und brüllte bald nur noch hysterisch „Rauus! Raus!“. Doch schlecht angezogen verlässt der Fünf-Minuten-Autoritäre nicht das Schlachtfeld. „Gib mir meine Jacke“, befahl ich herrisch Nummer eins, der sofort gehorchte und mir demütig das Kleidungsstück überreichte. „Wer ihn züchtigt, den liebt er“, rauschte mir Fromm durch den Sinn, und mir wurde schlecht. Schnell weg, raus auf die Straße, ins Morgenlicht. Taxen halten nicht für Menschen mit blutenden Nasen. An der roten Ampel erbarmte sich schließlich ein Berliner Benz-Buddha. „Viel los jewesen, wa“, brummte er. Ich nickte stumm. „Det jeht voabei, wema älta wird“, beruhigte er mich und fuhr mich heim.

Die dunkelhaarige Frau habe ich wieder getroffen. Für den unromantischen Abgang habe ich mich bei ihr entschuldigt und dann – nur so viel: Wehgetan hat gar nichts, aber so schön wie im Rausch wirkte die Dame auch nicht mehr.