: Im Reich der leeren Zeichen
Ein japanischer Animationsfilm als Psychothriller: „Perfect Blue“ spielt mit Hitchcock & Co und erzählt von einem einsamen Manga-Mädchen inmitten der bunten Popindustrie
Satoshi Kons Animationsfilm „Perfect Blue“ beginnt inmitten eines Teenagertraums: Mima ist ein aidoru kashu, einer der zahlreichen Mädchenpopstars, die von der japanischen Kulturindustrie am Fließband erzeugt werden. Den Höhepunkt ihrer Karriere hat sie mit ihrer Band Cham allerdings bereits überschritten, und so entscheidet sich Mima auf Anraten ihres Managers eilig für ein nachhaltigeres Erfolgsmodell. Sie verkündet ihren Abschied von Cham und übernimmt eine Rolle in der Krimiserie „Double Bind“. Mima wird ein Fernsehstar.
Man kennt solche Geschichten aus „Sailor Moon“ und anderen japanischen Mädchenmangas. Komisch, dass sich „Perfect Blue“, sobald die Handlung etwas vorangetrieben wird, dann ganz eindeutig auf amerikanische Filmvorlagen bezieht. Kaum hat Mima ihren ersten Dreh hinter sich, verliert sie sich zwischen der blutigen Welt der Fernsehserie und dem eigenen Erleben – am Set geschehen die ersten grausamen Morde. „Perfect Blue“ zitiert Alfred Hitchcocks „Vertigo“, Brian de Palmas „Der Tod kommt zweimal“, vielleicht auch Alan Parkers „Angel Heart“ und wird auch in den großflächig gezeichneten Bildern sehr konkret: Mima im Profil, mit einem Dolch in der Hand über eine liegende Gestalt gebeugt, das ist Sharon Stone in einer der bekannteren Szenen aus „Basic Instinct“.
An Hitchcock orientierte amerikanische Filme erzählen von den blutigen Grenzverwischungen zwischen Wahn und Wirklichkeit am liebsten entlang klarer psychoanalytischer Storylines. In „Perfect Blue“ gibt es allerdings kein Trauma und keine Biografie, mit der sich dramaturgisch arbeiten ließe: Mima, das Mädchen mit den großen Augen, gewinnt nicht mehr Konturen, als ihr als aidoru kashu zustehen, als geschichtsloses Produkt der Popkulturindustrie.
Damit steht „Perfect Blue“ als Psychothriller dennoch mehr in der Tradition der japanischen Mangas als in der des Hollywoodkinos. Bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren hatten besonders die japanischen Mädchencomics in äußerst einfachen Geschichten mit – aus westlicher Sicht eher komplizierten und oft nur schwer zu verstehenden – Rollen- und Identitätswechseln gearbeitet. Die Grundlagen für dieses mal romantische, mal grausame Spiel mit multiplen Persönlichkeiten sind tief in der japanischen Kultur verwurzelt und finden sich vor allem im Theater und in der klassischen Literatur wieder.
In den Mangas verbinden sie sich jetzt mit dem popkulturellen Zeitgeist. „Sailor Moon“ hat es so mit eher harmlosen Bildern von fliegenden Superheldenteenagern bis in die europäischen Fernsehstationen, Zeitschriftenauslagen und Schultaschen geschafft. Auch „Perfect Blue“ ist trotz der verwirrenden Handlung letztlich ein klares, sozusagen global verständliches Statement: Mimas Wirklichkeitsverlust und ihre vermeintliche „Persönlichkeitsstörung“ kreisen um nichts anderes als die interpretatorische Leerstelle, die Popkultur zurücklässt.
Das ist ja bekanntlich eine ziemlich bunte, zuweilen aber auch recht deprimierende Leerstelle. Sehr überzeugend erzählt „Perfect Blue“, wie auch der Titel schon nahe legt, von der vollständigen Einsamkeit inmitten einer überdeterminierten und unheimlichen Zeichenwelt, aus der es keinen Ausweg gibt. „Illusions don’t come to life“, will jemand Mima beruhigen, als sie wieder einmal von den blutigen Bildern in ihrem Kopf eingeholt wird. Mima weiß leider zu genau, dass das nicht stimmt. Denn auf einer der vielen Ebenen, auf denen „Perfect Blue“ funktioniert, ist sie schließlich eine zum Leben erweckte Sinnestäuschung.
KOLJA MENSING
„Perfect Blue“. Regie: Satoshi Kon. Japan 1997, 81 Min.
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