Die Gießkanne hat ausgedient

Der allgegenwärtige Sog der Zentralisierung: Nach dem Fall der Mauer gehen in Berlin die für die Kultur bestimmten Gelder zunehmend an die so genannten Leuchttürme – zur Befriedigung der auf Hauptstadt gedrillten Institutionen der neuen Mitte
von HARALD FRICKE

Seit Berlin in Bonn vom Bundestag zur Hauptstadt gewählt wurde, gibt es Streit um den Fortbestand kultureller Einrichtungen in der Stadt. Ständig werden Museen, Theater, Institutionen umgeordnet, neu bewertet und abgestoßen. Mal ist von „Leuchttürmen“ die Rede, die man erhalten muss, dann wieder vom jungen Lebensgefühl der neuen Mitte, das bei den Kürzungen im Kulturetat des Senats nicht hinten runterfallen soll. Meistens dreht sich die Debatte trotzdem nur um Highlights.

Dabei versucht zumindest Naumann, mehr Sachverstand in die Diskussion zu bringen. Die Gelder, so erklärt er des Öfteren in Interviews, würden in Berlin durch eine konfus agierende und ohnehin überproportionierte Verwaltung nicht effektiv genutzt. Die Stadt sei offenbar nicht in der Lage, einigermaßen ökonomisch zu wirtschaften. Es fragt sich nur, welche Stadt denn gemeint ist: Berlin als Großstadt, als Weltstadt oder eben als Hauptstadt? Für Naumann ist das noch alles eins, während sich in der kulturellen Programmatik und in der Praxis erhebliche Unterschiede aus der jeweiligen Konzeption ergeben.

Tatsächlich war Kulturpolitik in Berlin vor dem Mauerfall ein diffuses, wild gewachsenes und unberechenbares Feld, das dem Image einer zerklüfteten Mauerstadt entsprach. Hier konnte sich in den Bezirken eine dezentrale Kultur als Ergebnis der Studentenbewegung entwickeln, die eher die Interessen vor Ort vertrat, als der Repräsentation des offiziellen Berlin zuzuarbeiten.

Diese Heteronomie machte es außerhalb von Berlin sehr schwierig, die kulturellen Binnenformationen zu verstehen. In der Annahme, dass die Teile mehr sind als das Ganze, wurde Kultur seit Mitte der 70er-Jahre den divergierenden Milieus gemäß je nach Umfeld gestaltet: Noch immer gibt es in Zehlendorf Klassikkonzerte mit lokalem Zuspruch, in Wilmersdorf freie Theatergruppen als Alternative zu ortsansässigen und etablierten Bühnen der Stadt; Wedding ist nach wie vor kulturell als ein traditioneller Arbeiterbezirk definiert, Kreuzberg legt Wert auf die Einbindung einer mehrheitlich von Jugendlichen und ausländischen Bewohnern geprägten Kultur; und in Schöneberg wurden über die Jahre Nazivergangenheit, Hausbesetzerszene und schwule Lebenswelten kulturell aufgearbeitet. Man kann diese Aufteilung über die Stadt eine Befriedung von Nischen nennen, im schlimmsten Fall gut gemeinte Sozialarbeit: Hier das Kreuzberger Arbeitslosenprojekt der Wiener Künstlergruppe „WochenKlausur“ als Problembewältigung vor Ort; und dort die glamourösen Happening-Kongresse von Christoph Schlingensief in der Volksbühne.

Jedenfalls entstand aus genau dieser Mischung eine notwendige Strukturierung nach den Maßgaben einer dezentralen Kulturarbeit. Die Gemengelage machte den Reiz von Alternativveranstaltungen zur 750-Jahr-Feier ebenso aus wie die über die Stadt verstreuten Aktivitäten zur europäischen Kulturhauptstadt 1988. Und weil diese Programmatik des Patchworks funktionierte, wurde unter Anke Martiny als Kultursenatorin der Grünen (damals AL/Alternative Liste) die dezentrale Kultur ins Koalitionspapier des rot-grünen Senats von 1989 aufgenommen:

„Es sind Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen, die stärker als andere an den Lebensraum des Bezirks gebunden sind: Kinder und Jugendliche, Familien mit Kindern, alleinstehende Frauen und Männer, ältere Menschen, ebenso Menschen, die nicht die Möglichkeit hatten, ein selbstbewusstes, durch eigene Initiative bestimmtes Verhältnis zur Kultur zu entwickeln; die im Bezirk lebenden Ausländer/-innen sind zu beteiligen. Die Stadtteilgeschichte ist als wichtiges Instrument zur Förderung der bezirklichen Identität zu fördern.“ So steht es in einer Senatsvorlage vom 18. Juli 1989.

Diese Einschätzung spiegelt nichts anderes als Erfahrungen der Bundesrepublik von der Hamburger „Fabrik“ bis zum Nürnberger „Komm“ in den 70er- und 80er-Jahren wieder. Das von Martiny entworfene Szenario ist an den sozialen Ansprüchen einer gewöhnlichen Großstadt mit alltäglichen Problemen orientiert und weniger am Modell einer Event-orientierten Weltstadt, das parallel etwa in der „Zeitgeist“-Inszenierung von Christos Joachimides anvisiert wurde (zehn Jahre später bekam Joachimides 1991 dann tatsächlich seine „Metropolis“-Show). Tatsächlich brachten die verstreuten Initiativen zur europäischen Kulturhauptstadt Berlin erstmals seit dem Kriegsende wieder den Ruf einer sich weltstädtisch gerierenden Stadt, deren Großkultur im Zentrum sich ein Zimmer in Kreuzberg leisten konnte. So wurden experimentelle Inszenierungen der Schaubühne an die Probebühne/Cuvrystraße verlagert oder wurde das Hebbel Theater für Veranstaltungen mit Neuer Musik und Tanztheater geöffnet. In der Folge stellte der Senat für alle Westbezirke verstärkt Stellen für die kommunale Kulturarbeit zur Verfügung.

Im Ostteil der Stadt ließ man zu dieser Zeit bereits alternative und nichtstaatliche Kultur – etwa Performancefestivals oder die Literaturszene in Prenzlauer Berg – gewähren, auch wenn die Aktivitäten von IMs der Staatssicherheit bespitzelt wurden. Nach dem Mauerfall operierten Interessengruppen wie das Verlagshaus Galrev, die Autoperformations-Szene oder die Aktionsgalerie Oderberger 2 kaum noch miteinander und verzettelten sich bei ihrer Suche nach Identität in kurzfristigen Aktivitäten, die ebenso sporadisch und nach dem Gießkannenprinzip auf Bezirksebene unterstützt wurden. Dadurch verloren sich die Konturen des ehemaligen Ostberliner Underground noch mehr.

Für den Westen bedeutete die Anhebung der Mittel und der Ausbau von ABM-Stellen einen Zuwachs an Gewicht bei den Aktivitäten in den Bezirken. Nur durch diese Präsenz im Kulturbetrieb lässt sich im Nachhinein auch die Lobbyarbeit des Kunstamts Kreuzberg erklären. Tatsächlich war dem Kunstamt in Zusammenarbeit mit der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) erst im vergangenen Jahr mit der Ausstellung über das Fotoatelier „Mathesie“ eine komplexe Recherche über ein lokales Phänomen gelungen, das mittlerweile in Kooperation mit dem Goethe-Institut um die Welt geschickt wird.

Mit dem Berlin nach Mauerfall ist dieser Entwurf eines urbanen Soziotops überholt. Was auf bezirklicher Ebene als lokale Kultur funktionierte, gerät nun in den allgemeinen Sog der Zentralisierung. Stattdessen wächst nun allerdings das Gewicht des institutionellen Mittelbaus: Kunstvereine haben jetzt die Chance, sich mit Initiativen vor Ort zu vernetzen; selbst große, repräsentative Häuser wie der Martin-Gropius-Bau nutzen die neue Infrastruktur. Wenn im abgeschiedenen Zehlendorf eine Ausstellung mit Bildern von Georg Herold oder Albert Oehlen stattfindet, dann fällt plötzlich auch mehr ins Gewicht, dass der Hamburger Bahnhof die Produktion zeitgenössischer Kunst kaum berücksichtigt. Deshalb könnten mit der lokalen Ausstellung (im Haus am Waldsee) durchaus Forderungen nach einem breiteren städtischen Diskurs über kulturelle Institutionen bis hin zur Ankaufspolitik der staatlichen Museen entstehen. Umgekehrt ist im Martin-Gropius-Bau bereits das „museum der dinge“ für Alltagskultur angesiedelt. Es fehlt nur an einer geschickteren und öffentlichkeitswirksameren Positionierung solcher Aktivitäten innerhalb der Diskussion – dann könnten vielleicht auch noch weiter am Rand arbeitende Initiativen wenigstens wieder mit mehr Aufmerksamkeit rechnen. Es geht nicht um eine Aufwertung von lokalen Interessen im staatsrepräsentativen Sinn, sondern um ein weiter aufgefächertes Bewusstsein über kulturelle Optionen innerhalb dieser Repräsentativität.

Erstaunlicherweise werden die Anmutungen in Sachen Hauptstadt, wie sie seit dem Entscheid zum Regierungsumzug formuliert wurden, vor allem in den Medien stattskonform abgebildet. Den Anfang machte hierbei das Feuilleton der FAZ mit einer Debatte zur „Hauptstadt-Prüfung“, an die sich die Serie „Geistiger Standort“ des Berliner Tagesspiegels anschloss. Plötzlich wurde Berlin wegen der schlechten Verkehrswege kritisiert („Die Trägheit des PKW“, Jens Jessen, FAZ, 4. 1. 1995) oder für das geringe internationale Niveau der Theater getadelt („Tiger im Kartoffelsalat“, Gerhard Stadelmaier, FAZ, 6. 2. 1995). Im Tagesspiegel sah Jan Schulz-Ojala am 1. 4. 1995 angesichts der Off-Szene „kein[en] Grund, Amateure zu fördern, wenn genug Profis da sind. Der Professionalisierungsprozess ist in vollem Gange.“

Der die neue Staatsverantwortung tragende Furor des Feuilletons spiegelte damit allerdings nicht einmal die Wünsche der Bundesregierung wider, sondern hielt quasi als Status quo fest, was sich als Sparprogramm des Senats längst durchgesetzt hatte. 1993 musste der damalige Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin das Schiller Theater schließen, weil das Renommee die Zuschüsse nicht mehr zu rechtfertigen schien. Umgekehrt wurde in Mitte seit 1992 in neue Institutionen wie die Kunst-Werke investiert, die ihr Domizil, das Gebäude einer ehemaligen Margarinefabrik, mit Unterstützung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin kaufen und aus Mitteln des Denkmalschutzes renovieren konnten. Außerdem wurde auch die Volksbühne fest vom Senat gefördert und das Podewil (vormals Haus der Jungen Talente) in ein weiteres Tanz-Theater-und-Kunst-Zentrum mit Atelierprogramm umgewandelt.

Die Probleme einer solchen Delegierung an einzelne, mitunter semiöffentliche Häuser, die sich durch ein Mischkonzept finanzieren, sind im Status der Institutionen bereits angelegt. Einerseits sollen die Kunst-Werke mit ihrem Programm kostendeckend wirtschaften, andererseits gibt es im Umfeld aber divergierende Vorstellungen über die dazugehörige Programmatik: Ist es besser, Matthew Barney zu zeigen, damit der internationale Anschluss stimmt? Oder soll man sich mit der Rolle von Institutionen auseinander setzen, die eben nicht mehr als kritische Instanz des städtischen Wandels agieren, sondern den Umbau lediglich symbolisieren und damit der staatlichen Repräsentationslogik zuarbeiten?

Wenn heute verstärkt über Kulturpolitik diskutiert wird, dann reagiert diese Diskussion vor allem auf die Folgen der Entwicklung Berlins zur Hauptstadt. Die Deutung der schleichenden Verschiebung einer nach wie vor geltenden kulturellen Hoheit der Länder wird dabei vor allem auf den Konflikt zwischen dem Bund und Berlin gelenkt – das liegt zwangsläufig im Interesse der alten Berliner Institutionen, die mit dem Zuzug der Regierung eine Schwächung ihrer Position befürchten, die de facto durch die Sparpolitik des Senats und des Bundes eingetreten ist.

Zugleich ist der zentralistisch geprägte Diskurs, der sich um Kultur gebildet hat, ein Abbild der realen Bewegungen – nicht allein von Bonn nach Berlin, sondern auch in der neuen Formation einer kulturellen Intelligenz, die bislang den Mittelbau der bundesrepublikanischen Institutionen besetzte und nun mit der Hauptstadt einen repräsentativen Zuschnitt für eine länderübergeifende Deutungsmacht bekommt: Schon haben sich mit der American Academy und dem erweiterten Institut Français auch internationale Kultureinrichtungen in Berlin angesiedelt, die sich von der Hauptstadt eine größere Außenwirkung versprechen. Darüber hinaus haben sich Guggenheim Museum und Deutsche Bank für ein Joint-Venture zusammengetan, und auch das Vitra Design Museum hat sich jetzt ein Bewag-Gebäude in Prenzlauer Berg als Dependance für das Stammhaus in Weil am Rhein ausgesucht. Das ist durchaus als Triumph einer stillschweigend schon seit den späten Fünfzigerjahren auf die „heimliche Hauptstadt“ vertrauenden Schicht kultureller Funktionsträger zu verbuchen.

Es ist gut, zu wissen, dass es weiterhin dezentrale Kulturarbeit gibt, die in Kreuzberg oder Steglitz, in Friedrichshain oder Mitte immer noch genügend Potenzial besitzt. Noch werden ständig neue Clubnetzwerke gegründet und Veranstaltungsorte in billigen Räumen installiert – auch wenn die Gelder für Kultur mehr und mehr an die „Leuchttürme“ zur Befriedung der auf Hauptstadt gedrillten Institutionen der neuen Mitte vergeben werden. Vielleicht kann man bald schon eine Umkehr erleben, weil die nachwachsenden Kulturschaffenden dann die Gemengelage des Ruhrgebiets wieder interessanter finden als das flurbereinigte Staatskulturleben in Berlin. Die Kollegen in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg jedenfalls freuen sich über jede Gegenrede zur Berliner Republik.

Dieser Text ist die gekürzte Version eines Beitrags für die neueste Ausgabe der Zeitschrift Texte zur Kunst

Hinweise:Nach dem Mauerfall ist der Entwurf eines urbanen Soziotops überholtJetzt wächst das Gewicht des institutionellen Mittelbaus