Leben in der Emanzipationsmaschine

Nach zwanzig Jahren macht sich die GAL wieder grundsätzliche Gedanken über die Chancen und Probleme der Großstadt, zum Beispiel die Stadtflucht der Mittelschichten  ■ Von Gernot Knödler

Zef Hemel sah es positiv. Die Stadt ist für den Mitarbeiter des holländischen Raumplanungsministeriums eine riesige „Emanzipationsmaschine“: Junge und/oder arme Leute wandern zu, um die Chancen zu nutzen, die ihnen nur die Stadt bieten kann. Und wenn sie wohlhabend geworden sind, ziehen sie wieder weg ins Grüne. „Dafür haben wir Städte“, sagt Hemel.

Der niederländische Experte sprach in einem der fünf Foren, auf denen sich die GAL am Sonnabend Gedanken um die Zukunft der Großstadt machte. Rund 170 Leute hatten sich angemeldet. 30 davon diskutierten in der Evangelischen Akademie über das zentrale Thema „Stadt von morgen – Stadt für alle“.

Hemels Optimismus war erfrischend, reichte aber doch nicht aus, um das Forum nachhaltig anzustecken, zumal auch die Emanzipationsmaschinen Amsterdam, Rotterdam und Den Haag zusammen jährlich 10.000 EinwohnerInnen ans Umland verlieren: 90.000 Menschen zogen in die Stadt, 100.000 hinaus aufs Land. Damit ist ihr Wanderungsverlust geringer als der Hamburgs, das in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt 22.000 Menschen verlor und 17.000 gewann. Folge dieser negativen Bilanz ist eine zunehmende Zersiedelung des Umlandes. Hamburg verliert SteuerzahlerInnen und muss gleichzeitig jeden Werktag den Lärm und die Abgase von zurzeit gut 260.000 EinpendlerInnen verkraften. 80 Prozent ???von ihnen stammen aus den vier Umlandkreisen.

Der Stadtplaner Klaus Habermann-Nieße verwies auf vier Typen von Menschen, die ins Umland ziehen: 1. Leute die vom Lande stammen und dahin wieder zurückziehen. 2. Leute, denen die Stadt nicht die individuelle Wohnung bieten kann, die sie suchen. 3. Menschen, die vor allem billig wohnen wollen und 4. Zuwanderer, die in den Umlandgemeinden hängen bleiben, weil sie keinen Überblick über das Angebot in der Stadt haben. Die Stadt könne gegensteuern, indem sie die Identität von Stadtteilen stärke und Alternativen zum Wohnen im Grünen fördere: Eigentumswohnungen, Wohnungen mit einem besonderen architektonischen Charakter, mit Parks und Gewässern in der Nähe und mit selbst gewählten NachbarInnen.

Reiner Schendel von Stadttbau unterstützte den Vorschlag, Bauherren-Gemeinschaften der künftigen BewohnerInnen zu fördern. Durch Umgehung eines Investors würde das Bauen in der Stadt billiger. Allerdings müsste die Stadt Planungsrisiken übernehmen, wie sie etwa mit einer möglichen Kontamination des Baugrundes verbunden seien.

Die Niederländer rückten dem Problem damit zu Leibe, dass sie die großen Städte verpflichteten, auf ihrem Territorium pro Jahr ein bestimmtes Kontingent an Wohnungen neu zu bauen. Sie verbanden das mit einem Programm zur gezielten Förderung junger Architekten, damit attraktive Wohnungen geschaffen würden.

Den nachmittäglichen Teil des Forums hatte die GAL speziell unter die Überschrift „Stadtflucht der Mittelschichten“ gestellt. Sie erkennt darin nicht zuletzt deshalb eine Gefahr, weil damit vielen Vierteln der soziale Kitt verloren gehen könnte.

Albrecht Göschel vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) warnte vor dem Entstehen einer neuen städtischen Unterklasse, deren Mitglieder von der Teilhabe an der Politik, am Konsum und an den Karriere-Möglichkeiten der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen sind. Angesichts der Tatsache, dass das Risiko, zu dieser Unterklasse zu gehören, für MigrantInnen überdurchschnittlich hoch ist, forderte er die GAL auf, sich politisch „wieder am Ziel der materiellen Gleichheit und nicht nur der kulturellen Vielfalt“ zu orientieren. Der Sozialstaat sollte modernisiert werden, um eine immer schärfere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.

Überdies müsse vermieden werden, so Göschel, „dass sich Verlierer-Sein mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie verbindet“. Wie andere Redner dämpfte Göschel damit Ayse Öktems optimistische Sicht, Wohnquartiere, in denen nur MigrantInnen wohnen, könnten positiv sein, weil ein solche Ghetto Sicherheit vermittle und Raum für die eigene Kultur der MigrantInnen biete. Auf der Negativ-Seite stehen zum Beispiel eingeschränkte Bildungschancen, die dadurch entstehen, dass 90 Prozent der Kinder einer Klasse kein Deutsch sprechen.

Öktem, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Migrationspolitik der GAL, und Göschel waren sich allerdings einig, dass Städte von der Migration leben. Zeitweise seien 60 bis 70 Prozent der Menschen in den Ruhrgebiets-Städten PolInnen gewesen, sagte Göschel. „Die Migration ist conditio sine qua non des Zivilsationsprozesse“, formulierte Öktem. Zef Hemel sagte schlicht: „Die Städte werden multikultuerell und das ist gut.“