Dribbelorgie im Käfig aus Metall

Die Zeitrechnung im Freiplatzbasketball beginnt mit den Streetball-Events. Doch in Berlin wurde schon vorher gezockt und der Geist von damals lebt

von HENNING HARNISCH

Der S-Bahnhof Ostkreuz ist ein hektischer Ort. Doch es findet sich schnell Ruhe. Man muss nur den Ausgang Sonntagstraße wählen, dann wird man am südöstlichen Zipfel von Friedrichshain ausgespuckt.Durch die Bäume lässt sich die typische soziale Qualität eines Friedrichshainer Platzes erahnen: Trinker aller Art und Abhänger lümmeln neben einem Kinderspielplatz. Und, wie ein Mittler zwischen Klein und Groß, befindet sich am Rand des Biotops ein Käfig aus Metall. Metallene Basketballkörbe und Fußballtore warten auf kanalisierte jugendliche Aggressionen. Doch ob quer oder längs gespielt wird, ob mit dem Fuß oder der Hand, diese Frage stellt sich hier nicht wirklich. Was aus der Ferne ein guter Platz für beide Spiele zu sein scheint, ist aus der Nähe eine einseitige Sache. Gewellter Boden mit feinem Schotter überzogen eignet sich zum Bolzen, nicht zum Dribbeln.

Ümit Ergün würde hier auf gar keinen Fall spielen. Der Reiz der Parkanlage wäre dem 23-Jährigen aus Lichterfelde die Anreise nicht wert. Sobald das Wetter es zulässt, ist Ümit Ergün auf der Suche nach dem Spiel. Spiel heißt für ihn Competititon, Wettkampf, und den findet er (siehe Interview) nicht an vielen Orten der Stadt. Der slicke Ümit hat alle Phasen der Entwicklung von Freiplatzbasketball miterlebt. Grob eingeteilt gibt es drei: die Zeit vor, nach und während der Mode. Berlin ist eine der wenigen deutschen Städte, in der es überhaupt eine Phase eins gegeben hat, in der schon vor Adidas und Streetball regelmäßig draußen gespielt wurde. Der Grund? Nicht nur Rock ’n’ Roll und Soul wurde durch die Präsenz der Amerikaner in der Stadt eingeführt, auch Basketball auf der Straße ist größtenteils den GIs zu verdanken.

Vor allem im Süden von Berlin entstand so eine rege Freiplatzszene. Der gar nicht so alte Ümit schwärmt noch heute vom Platz an der Leichhardtstraße. Auf diesen Plätzen, meist auf amerikanischem Gelände, wurden Berliner in die Regeln und das Spiel eingewiesen. Die Mythen um den Freiplatz fanden hier ihren lokalen Ursprung. Nicht nur das Spiel lernte man, auch Sprache, Umgang und Einstellung der Amerikaner wurden kopiert. Ümit ist das beste Beispiel für die kulturelle Vermengung: Seine Art ähnelt eher einem amerikanischen Großstadthustler als einem Lichterfelder Vorstadtjungen. Mühelos könnte er in Larry Clarks Film Kids mitspielen.

Müßig, darüber nachzudenken, ob es – trotz des Abzugs der Amerikaner – ewig so weitergegangen wäre. Denn 1992 verstand es Adidas, ihrem angeschnarchten Image einen entscheidenden Kick in Richtung Jugendkultur zu verschaffen: Streetball wurde erfunden. Mit aller problematischen geschichtlichen Verkürzung: Streetball, ein Begriff, der in den USA unbekannt und von Adidas urheberrechtlich geschützt ist, wurde mit Outfit, Turnieren und Slang versehen und auf den Markt geworfen. Ein Produkt und eine neue Phase waren geboren. Phase zwei.

Auch andere große Sportartikelhersteller wie Nike oder Converse investierten in die Verbreitung eines neuen Sports. Wie Jochen Böhmcker, heute Mitarbeiter beim Berliner Basketballverband, damals Organisator bei den großen Adidas-Turnieren, sagt, bot Streetball den Firmen einen „hohen PR-Wert“. Das Produkt griff schnellI. Streetball, in Turniere und Events verpackt, war das Ding der folgenden Sommer.

Böhmcker, der die „alte Variante“ als Aktiver miterlebt hat, schätzt mittlerweile den kommerziellen Einfluss negativ ein. Nach seiner Erfahrung erzeugten beispielsweise die lukrativen Preise eine aggressive Grundstimmung bei den Streetballern. Phase zwei schuf aber auch die Voraussetzungen für das, was heute normal ist: Freiplätze in der ganzen Stadt.

Neben dem medienwirksamen Einsatz der Sportfirmen – Korbspenden von Adidas etwa oder ein Freiplatz, den Nike aus alten Basketballschuhen am Alexanderplatz baute – waren plötzlich überall Gelder vorhanden, um Courts zu bauen. Der pädagogische Wert von Streetball wurde (an)erkannt. So entstand 1993 das Berliner Streetballteam, ein Folgeprogramm des Projektes „Jugend mit Zukunft“, das in sozialen Brennpunkten agieren sollte. Nächtliches Streetball in der Halle wurde etabliert und rund 300 Korbanlagen in der ganzen Stadt installiert. Frank Paschek, der Projektleiter, glaubt nun: „Es gibt ausreichend Plätze.“ Die Zeit der Konsolidierung ist erreicht. Phase drei.

Für das Streetballteam heißt Phase drei: Um Körbe muss nicht mehr gekämpft werden; stattdessen gilt es das Vakuum, das durch den Abzug der Streetballsponsoren und -turniere entstanden ist, zu füllen. Das Team ist heutzutage mit dem Streetballmobil unterwegs, lehrt Jugendliche Fair Play und ist Partner der Turniere in den Bezirken. Phase drei, Paschek fasst zusammen: „Der Höhepunkt ist vorbei, aber da bleibt was.“

Was da geblieben ist, lässt sich schwerlich unter einen Hut bringen. Zu verschieden sind die Plätze, die Orte und die Leute. Größe, Lage und Anzahl der Courts korrespondieren mit unterschiedlichster Spiel- und Verhaltensweise. So ist „Wannsee“, wie Ümit die drei Plätze an der Dreilindenschule nennt, dadurch gekennzeichnet, dass zumeist Vereinsspieler auf zwei Körbe Fünf-gegen-Fünf spielen und die drei Courts zusätzlich viel Raum für Training und Spiel der Schwächeren bieten. Dagegen liegt der Platz im Monbijou-Park in Mitte in einer komplett anderen Welt. Gerade noch die Mittellinie passt hier zwischen Zone und Zone. In ultra-engen Verhältnissen wird auf zwei Körbe Vier-gegen-Vier gespielt. Wer dort am Wochenende zocken möchte, braucht Geduld oder sollte die Hausherren kennen. Der Stil ist wilder und leicht unorthodox.

Herausragend, weil ein Unikat: das Yaam. Nach Umzug in die Cuvrystraße nun wieder hinter der Arena an der Spree, ist das Yaam der Ort und die Institution, um sich am Sonntag für das Drei-gegen-Drei-Turnier in die Liste einzutragen. Unikat auch, weil es, obwohl zur Hoch-Zeit von Streetball 1994 entstanden, weiterhin stabil funktioniert und unverdächtig ist, Modeschnorrertum zu betreiben. Konstant sind mindestens acht Teams am Start. Und: „Es wird nicht so verbissen gespielt“, so schätzt zumindest Ortwin Rau, Vorsitzender des Yaam, die Atmosphäre ein.

Ein Grund dafür – und die Besonderheit des Yaam – ist sicherlich, dass Basketball nur ein Teil des Gesamtprogrammes ist. Die Spiele auf Asphalt und mit wackligen Körben sind in ein lustiges Treiben aus Fußball, Hackysack, Caipirinha und generellem Entspannen integriert. Unverständlich ist, dass dieser charmante Ort weiterhin auf der Suche nach einem festen Zuhause ist und keinerlei Förderung erhält. „Wir sind unfreiwillige Vagabunden“, sagt ein zwischen Frustration und Hoffnung pendelnder Rau. Er hat die ganze Spree auf Friedrichshainer und Kreuzberger Seite abgegrast, aber keinen festen Platz für das Yaam gefunden.

Auf der Reise durch die Stadt auf der Suche nach den Freiplätzen erschließt sich eine besondere Topographie. Bestenfalls ist der Platz eine Bühne, sind Duelle und Frotzeleien Teil der Dramaturgie, schlimmstenfalls riecht man die Einsamkeit unbespielter Anlagen. Alexanderplatz – der einzige Court mit Flutlicht, durch die angrenzenden Laternen garantiert. Bismarckstraße – zwei Plätze, zurückgesetzt spielen die Cracks, viele Dunkings sind durch die niedrigen Körbe garantiert. Blissestraße – der modernste Gummiboden, nachbarschaftsfreundlich werden die Dribbelgeräusche verschluckt, nur leider hat man vergessen, Linien einzuzeichnen. Das legendäre Rias am Innsbrucker Platz. Hasenheide, Böcklerpark, Volkspark Friedrichshain – die Plätze, sie sind da. Nur: Kaum eine Frau spielt auf ihnen. Da passt die Meldung, dass am Lausitzer Platz in Kreuzberg der erste reine Mädchenplatz entstanden ist. Zutritt für Jungs – verboten!

Jeder dieser Plätze hat mittlerweile seine Geschichte, seine Gerüchte und Mythen. Die Sponsoren, sie sind weitergezogen auf der Suche nach dem neusten Hype. Es scheint aber so, als ob die Menschen geblieben sind.

Henning Harnisch ist Ex-Spieler der Nationalmannschaft und von Alba Berlin