Weg mit der rosa Multikultibrille!

Wer in der Jugendhilfe vor allem mit kulturalistischen Deutungen arbeitet, hindert jugendliche MigrantInnen an der Entwicklung individueller Lebensentwürfe. Gut gemeinte Festlegung auf ein Wertsystem führen zu alltagsferner Ethnisierung

von VERONIKA KABIS-ALAMBA

Interkulturelle Jugendarbeit, die auf das gemeinsame Lernen von gegenseitigem Respekt und friedlichem Miteinander gerichtet ist, wird in der Praxis allzu häufig auf eine Arbeit reduziert, in der nach den kulturellen Merkmalen der jugendlichen MigrantInnen gesucht wird. Aus diesen sollen dann gut gemeinte Erklärungsmuster für ihr Handeln abgeleitet und entsprechende Arbeitskonzepte entwickelt werden. Nicht anders geschieht es regelmäßig in der Migrationssozialarbeit mit Flüchtlingen oder Aussiedlern. Dann lernen bemühte SozialarbeiterInnen Türkisch oder Russisch, informieren sich über Religionen und Traditionen, greifen einzelne Elemente vermeintlich typischer Kulturelemente heraus und verpacken sie, politisch korrekt, in Angebote der Jugendarbeit – griechischer Folkloretanz, nigerianische Trommelmusik –, die sich daneben gut öffentlich präsentieren lassen.

Eher mit Unverständnis werden mitunter diejenigen Jugendlichen betrachtet, die sich offensichtlich von ihrer „eigenen“ Kultur abgewandt haben. Als gefährlicher Kulturbruch wird es gewertet, wenn Mädchen oder Jungen dem Überlieferten gleichgültig gegenüberstehen. Gleichzeitig wird gewarnt vor Desintegration und Selbstethnisierungstendenzen, wonach sich die Jugendlichen auf ihre kulturelle Herkunft besännen und in die eigene ethnische Gruppe zurückzögen.

Wer glaubt, die Lebenssituation von Migrantenjugendlichen nur verstehen zu können, wenn er vor allen Dingen die „andere Kultur“ berücksichtigt, geht davon aus, dass Menschen in ihrer Kultur gefangen sind. Gerade aber MigrantInnen haben ihre Herkunftsgesellschaft freiwillig oder unfreiwillig verlassen. Sie stellen sich tagtäglich auf veränderte Bedingungen ein. Und jedes Individuum ist grundsätzlich in der Lage, sich mit vorgefundenen kulturellen Traditionen kritisch auseinanderzusetzen. Und wenn sich eigene Einwandererkulturen herausbilden, dann sind diese nicht einfach als ein Festhalten an der Herkunftskultur zu werten, sondern als eigenständige Kulturen zu begreifen. Jugendarbeit muss auf dieser Analyse der Einwanderungsgesellschaft basieren. Dann führt sie zu neuen Arbeitsansätzen.

Das geht nicht ohne Widerstände aus der Ecke derer, die Interesse daran haben, dass Verhaltensweisen von Jugendlichen – insbesondere abweichende – vor allem als kulturbedingt interpretiert werden: die öffentliche Meinung und auch die öffentliche Jugendhilfe, die Verantwortung damit leichter abschieben kann; die Elterngeneration, für die es mitunter schwierig ist, die Brüche, die mit Migration einhergehen, zu akzeptieren; die Jugendlichen selbst, für die der Weg des eigenverantwortlichen Handelns natürlich zunächst der schwierigere ist.

Die Rahmenbedingungen interkultureller Jugendarbeit haben sich entscheidend verändert: MigrantInnen leben inzwischen über mehrere Generationen in Deutschland, die Einwanderergruppen sind vielfältiger geworden. Insbesondere sind zu den ArbeitsmigrantInnen Flüchtlinge aus aller Welt hinzugekommen. Letzteres bedeutet für die tägliche Arbeit, dass wir es mit einer Vielzahl von Jugendlichen zu tun haben, die von der Teilhabe an den Strukturen der Gesellschaft fast vollständig ausgeschlossen sind: von öffentlich geförderten Deutschkursen, von betrieblicher und überbetrieblicher Ausbildung sowie von Fördermaßnahmen der Arbeitsämter, selbst Schulpflicht besteht für Kinder von AsylbewerberInnen nicht in allen Bundesländern, auch nicht im Saarland. Träger wie der Deutsch-Ausländische Jugendclub sind dadurch zum Sammelbecken für zahlreiche Jugendliche geworden, die ihren Tag mangels anderer Möglichkeiten mit Freizeitbeschäftigungen verbringen, nachdem der Besuch einer Regelschule oder eines Berufsvorbereitungsjahres wegen fehlender Sprachförderung gescheitert ist und andere Maßnahmen ihnen nicht offen stehen.

Die Legitimation sozialpädagogischen Handelns angesichts dieser Situation muss stark in Frage gestellt werden: Die viel zitierte „sinnvolle Freizeitbeschäftigung“ kann nicht wettmachen, was eine verfehlte Ausländerpolitik einer großen Gruppe von jungen Menschen an Zukunftsperspektiven vorenthält. Die Aufgabenstellung wird zur sozialpädagogischen Arbeit mit Benachteiligten umgemünzt, im günstigsten Falle öffentlich gefördert aus Haushaltstiteln des Jugendschutzes und der Prävention, wo allein durch die Schaffung eines anderen rechtlichen Rahmens und die Zurverfügungstellung der üblichen schulischen und arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirkliche Verbesserung für alle Beteiligten – die jugendlichen Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft – herbeigeführt werden könnte.

Die Träger einer solchen Arbeit werden zum Teil eines Systems, das Ausgrenzung bewusst zulässt und die zur Integration bestimmten Menschen entsprechend ihrem Aufenthaltsstatus selektiert. Dabei übernehmen sie eine Ausputzerfunktion in einer eigentlich aussichtslosen Situation: Sie sollen den Spagat schaffen zwischen der politisch legitimierten Nichtintegration jugendlicher Flüchtlinge und dem gleichzeitigen Erfordernis, diese Zielgruppe gesellschaftlich nicht auffällig werden zu lassen. Hier ist auf die kleinen freien Träger Verlass, aus zumeist persönlicher Motivation machen sie das Unmögliche möglich, organisieren sie fast ohne öffentliche Förderung Deutschkurse und Schülerhilfe, leisten sie Präventionsarbeit. Doch es gleicht einem Kampf gegen Windmühlen, der nur durch eine politische Kursänderung gewonnen werden kann. Das beharrliche Engagement insbesondere der Vereine, Initiativen und politischen Interessenvertretungen der MigrantInnen sowie ihr Versuch der öffentlichen Bewusstmachung für die Bedingungen der multikulturellen Gesellschaft zum Beginn der Neunzigerjahre waren wichtig und in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen. So ist „Multikulti“ – auch vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Anschläge – zum politisch Korrekten avanciert. Kein Stadtteilfest mehr ohne Frühlingsröllchen und Folklore, die bunte Welt des Kulturenmix wird beschworen, die bewusste Wahrnehmung und Aufwertung der Herkunftskulturen schließt eine Lücke im gesellschaftlichen Alltag. Gleichzeitig müssen wir zum Beginn des neuen Jahrzehnts feststellen, dass die kulturalistischen Ansätze, so gut sie gemeint waren, gerade der Jugendarbeit nicht unbedingt zum Vorteil gereicht haben.

Übersehen wurde dabei nämlich allzu leicht, dass Kulturen nichts Statisches sind, dass sie sich in der Migration zwangsläufig verändern und dass die Lebensweise der Eltern oftmals nicht mehr viel mit der ihrer Kinder gemein hat. Wer in der Jugendarbeit also weitgehend unkritisch mit einzelnen, erstarrten Kulturelementen arbeitet – und die Methodenhandbücher zur interkulturellen Pädagogik sind voll davon –, ganzen Gruppen von Jugendlichen entsprechend ihrer vermeintlichen Herkunftskultur pauschal bestimmte Verhaltensweisen und Erklärungsmuster zuschreibt, riskiert damit, diese Jugendlichen an der Entwicklung eigener Interessen und einer eigenen Identität zu hindern.

Und hier sind es gerade die kleinen, selbst organisierten Träger der Jugendhilfe, die sich besonders vorsehen müssen. Aus einem wohlmeinenden Interesse an anderen Kulturen und einem gleichzeitig mitunter wenig reflektierten Verständnis für Migrationsprozesse sowie einer insgeheimen Angst, von den KlientInnen der fehlenden Wertschätzung für die türkische, kurdische, tamilische Kultur verdächtigt zu werden, ist eine zum Teil blühende Folklorelandschaft entstanden. Sie ist oftmals rückwärtsgewandt ist und steht unter dem starken Einfluss der Elterngeneration. Müssen Migrantenjugendliche Folklore tanzen? Die Jugendarbeit muss zukunftsorientiert sein. Sie darf Selbstethnisierungsprozesse nicht unterstützen, wo diese ganz offensichtlich durch gesellschaftliche Ausgrenzung und kulturalistische Stigmatisierung begünstigt werden. Vielmehr muss sich interkulturelle Jugendarbeit, gerade wenn sie sich als Lobbyarbeit für die Jugend versteht, bewusst sein, dass sie mit Individuen arbeitet, sie muss persönliche Entwicklungschancen wahrnehmen und fördern, die Entwicklung neuer Lebensformen unterstützen.

Ein Umdenken in der pädagogischen Arbeit ist, wo es noch nicht passiert ist, also dringend erforderlich. Und dies wohlgemerkt nicht nur aus Parteilichkeit für jugendliche MigrantInnen, sondern zugunsten einer modernen Pädagogik der Einwanderungsgesellschaft für alle in ihr Lebenden. Den von MigrantInnen und Deutschen gleichermaßen getragenen Vereinen und Initiativen kommt hierbei besondere Verantwortung zu. Was sie bei Veranstaltungen, in den Medien, in Veröffentlichungen vermitteln, wird in der Öffentlichkeit als authentisch wahrgenommen. Sie entscheiden also mit darüber, welches Bild bei Deutschen wie Nichtdeutschen ankommt: das von traditionalistischen, sich gegeneinander abgrenzenden Einzelkulturen oder das von einer sich dynamisch entwickelnden Kultur einer ständig im Wandel befindlichen Einwanderungsgesellschaft. Es ist höchste Zeit, ein verändertes, modernes Bild von Multikulturalität zu bieten. Gerade in der Jugendarbeit.

Die Autorin ist Mitarbeiterin des Deutsch-Ausländischen Jugendclubs in Saarbrücken