„Wir sind verdammt“

Die kleinen Dinge am Rande der Schienen: Der Schriftsteller Alexej Warlamow über seine Beobachtungen beim Literaturexpress 2000

taz: Eine Mitreisende im Literaturzug sagte bei der Diskussion in Moskau: Eigentlich hätten die Schriftsteller aufgrund des Begleitprogramms auf den verschiedenen Stationen nur potemkinsche Dörfer gesehen. Sie widersprachen: Dafür seien sie ja Schriftsteller, dass sie sich nicht blenden ließen, sondern die kleinen Dinge wahrnähmen. Können Sie mir ein paar solcher kleiner Dinge nennen, die Ihnen aufgefallen sind?

Warlamow: In Sankt Petersburg wollte ein spanischer Schriftsteller auf den Spuren Dostojewskis wandeln und geriet dabei auf den alten Heumarkt. Dort sah er sich mit einer großen Anzahl von in ärmliche Lumpen gehüllten alten Frauen konfrontiert, die das Letzte zu verkaufen versuchten, was sie besaßen: eine Glühbirne oder eine Sammeltasse. Ich glaube, dass es im Westen schwieriger ist, Stellen zu finden, an denen soziale Geschwüre derart offen zutage treten – aber man kann doch Szenen beobachten, die auf den Charakter der Gesellschaft schließen lassen.

Zum Beispiel?

Wir waren in Brüssel gerade zur Zeit der Fußball-EM und erblickten diese Masse entfesselter Fans. Wir sahen auch, wie sich die belgische Polizei bewegte. Es war sehr interessant, diese Polizisten mit unseren Milizionären und unserer Sondereinsatztruppe Omon zu vergleichen. Die unsrigen wären in dieser Situation einfach zu Bestien geworden.

Konnten Sie noch irgendwo das Verhältnis zur staatlichen Gewalt beobachten?

Als wir in Lettland ankamen, feierte man dort das Fest des Liedes. Da versammelten sich tausende von jungen Leuten unter freiem Himmel. Weit und breit war kein Polizist zu sehen, trotzdem herrschte dort absolute Ordnung. Wenn sich in Moskau irgendwo tausende von jungen Leuten versammelten, wären sie sofort von der Miliz umzingelt, und im Nu wäre die schönste Prügelei im Gange.

Noch ein Erlebnis in Lettland gab mir sehr zu denken. Man führte uns in eine ehemalige sowjetische Militärgarnison am Daugava-Ufer, aus der man ein postmodernistisches Theater gemacht hat. Das alles ist sehr geistreich ausgedacht. Aber ich fragte mich: Wozu war eigentlich die russische Präsenz in Europa nötig, wenn sie uns überall dort so hassen?

Was waren ihren Eindrücke von der russischen Bevölkerung in den baltischen Staaten?

Ihre soziale Lage ist sehr prekär, unter ihnen gibt es viele bettelarme Menschen. Angesichts all dessen gefällt es mir nicht, dass in den baltischen Staaten die eigene Geschichte entstellt wird und sie jegliche Verantwortung für das Sowjetregime von sich weisen. Wir alle, die wir unter diesem Regime lebten, sind ohne Ansehen der Nationalität mitschuldig an dem geworden, was in jenen Jahren vorging – und diese Schuld müssen wir teilen, wenigstens proportional.

Und was halten Sie von Deutschland?

Ich bin schon früher dort gewesen. Manchmal scheint es mir, als ob die Deutschen permanent feierten. Mich verblüffte diese Lebenslust und Offenheit bei einem Volk, das einmal der Schrecken ganz Europas gewesen ist.

Mir scheint, dass sich die deutsche Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg wirklich gewandelt hat. Einmal besuchte ich ein Museum in einem ehemaligen Gestapo-Gefängnis in Westdeutschland. Ich fragte, ob dort viele Besucher kämen? Man antwortete mir: „Natürlich, der Besuch gehört für die Bundeswehrsoldaten in der Umgegend zur Pflicht.“ Das hat mich beeindruckt.

Was halten Sie von der europäischen Vereinigung?

Mir scheint, für die Westeuropäer ist diese Vereinigung weniger eine geistige Angelegenheit als etwas, was sie um ihrer Bequemlichkeit willen veranstalten: Eine einheitliche Währung und der Wegfall der Zollkontrollen machen das Leben einfach leichter. In Westeuropa ist es mit Händen greifbar, dass höchstmöglicher Komfort für alle Bürger ein gemeinsames Ziel bildet. Ich bezweifle, dass wir Russen jemals ein derartiges Komfortniveau erreichen.

Warum nicht?

Ich glaube, dass wir historisch dazu verdammt sind, unbequem zu leben – vielleicht wegen unseres gewaltigen Raumes, vielleicht schätzen wir die Bequemlichkeit nicht. Vielleicht sind wir es auch nicht gewohnt, Reichtümer anzusammeln, sondern sie zu verschleudern.

Während der Literaturzug in Hannover stoppte, stachen mir in einem Straßenbahnwaggon dort kleine Monitore ins Auge, auf denen die Stationen aufleuchteten. Bei uns wären die allesamt schon nach einem Tag von Rowdys mit Steinen zerschmettert worden. Natürlich lebt in jedem Westeuropäer genauso eine viehische Natur wie in unseren Menschen. Aber dort haben sie es geschafft, den meisten Leuten vom Kindergarten an Achtung vor Gesetz und Eigentum einzutrichtern. Wir, so fürchte ich, können diesen Fluch einfach nicht abschütteln.

INTERVIEW: BARBARA KERNECK