Ein Resultat der Moderne?

Enzo Traverso hat eine wesentliche Studie über den intellektuellen Diskurs zur Shoah verfasst. Er analysiert präzise die geistigen und moralischen Wendungen der Vierziger- und Fünfzigerjahre, löst sich jedoch zu wenig von den untersuchten Vordenkern
von MARTIN JANDER

Ob die Shoah überhaupt zu verstehen und zu erklären ist, haben Überlebende und Forscher oft zu Recht diskutiert. Gerade die militärische, ökonomische und politische Nutzlosigkeit dieses Verbrechens gegen die Menschheit hat die Vorstellung von der „vollendeten Sinnlosigkeit“ (Hannah Arendt) immer wieder hervorgebracht.

Enzo Traverso folgt dieser Interpretation nicht. In seiner neuen Studie „Auschwitz denken“, in der er dem Erkenntnisprozess einiger intellektueller Pioniere der Shoah-Analyse nachgeht, profiliert er eher die Auffassung, die Vernichtung der europäischen Juden sei wesentlich ein Resultat der Moderne. Zwar sei die Shoah ohne die lange Tradition und die Wandlungen des Antisemitismus in Deutschland nicht zu begreifen – aber eben auch nicht ohne die moderne Industrie, die bürokratische Arbeitsteilung und ihre Verbindung mit der Rassenbiologie.

Traverso untersucht in seiner Studie zahlreiche Arbeiten von Wissenschaftlern wie Hannah Arendt, Günther Anders und Theodor W. Adorno, aber auch von Schriftstellern wie Paul Celan, Jean Amery, Primo Levi, Dwight Macdonald oder Jean-Paul Sartre – und stellt sie in ihren jeweiligen politischen Kontext. Wie konnten sie bereits in den Vierziger- und Fünfzigerjahren, als die Welt trotz der Nürnberger Prozesse über die Vernichtung der europäischen Juden weitgehend schwieg, bereits das Neuartige dieses Verbrechens erkennen – und was verstanden sie?

Da Enzo Traverso in verschiedenen anderen Veröffentlichungen besonders den verzerrten Blick marxistischer Theoretiker auf den Antisemitismus und die Shoah bereits analysiert hat, ist er Fachmann für die Frage, welche intellektuellen Blockaden durchbrochen werden müssen. Der Autor, der in Frankreich an der Universität von Amiens und an der École des hautes études en sciences sociales in Paris lehrt, hat damit den Blick auf das Menschheitsverbrechen geschärft.

Von einem, der sich durch die Konfrontation u. a. mit der Vernichtung der europäischen Juden genötigt sah, marxistische Denkschemata abzulegen, handelt etwa das Kapitel über Dwight Macdonald aus USA. Der hatte sich seit der Mitte der Dreißigerjahre, unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise, des Bürgerkriegs in Spanien und der Moskauer Schauprozesse, politisch radikalisiert. Er war in der trotzkistischen Bewegung aktiv gewesen, hatte den Kurs der Zeitschrift Partisan Review bestimmt und war zur Galionsfigur der New Yorker Intellektuellen geworden. Nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki löste er sich vom Marxismus und fand neue Orientierung in einer Art libertärem Pazifismus. Er gründete 1944 die Zeitschrift Politics, die bis zu ihrer Einstellung 1949 den wichtigsten intellektuellen Akteuren der Epoche – allen voran Mills, Serge, Karl Jaspers, Hannah Arendt – ein Forum bot.

Bereits im März 1945 veröffentlichte Macdonald in Politics einen Essay auf der Basis der damals verfügbaren Quellen zur Vernichtung der europäischen Juden. Darin gab er eine ziemlich präzise Beschreibung der Funktionsweise der Todeszentren und folgerte abschließend: „Aus allen Berichten ergibt sich dasselbe Bild: Rationalität und System werden aufs äußerste getrieben; die Entdeckungen der Wissenschaft, die Raffinessen der modernen Massenorganisation werden für die Ermordung von Nicht-Kombattanten eingesetzt, und das in einem Umfang, wie seit den Tagen Dschinghis Khans nicht mehr.“

Eine höchste Rationalität der Mittel kombiniert mit einer völligen Irrationalität der Zwecke schien ihm das spezifische Kennzeichen dieses Verbrechens zu sein. Es war gerade die Vorstellung eines notwendigen gesellschaftlichen Fortschritts, des historischen Determinismus, die Macdonald nun angesichts der Berichte über die Vernichtung der europäischen Juden über Bord warf.

Wie Traverso in seiner Studie zeigt, thematisierte der Trotzkist Macdonald aus den USA damit einen Zusammenhang, der von den meisten anderen Pionieren, die unser heutiges Verständnis der Shoah prägen, ähnlich formuliert wurde. Unter diesen Pionieren bildet Macdonald allerdings auch eine Ausnahme. Denn in der Regel waren es jüdische Überlebende der Shoah oder glücklich ins Exil entwichene potenzielle Opfer nationalsozialistischer Vernichtung, die noch während des Krieges und danach die Shoah zum zentralen Gegenstand ihres Denkens und ihrer Publikationen machten. Den meisten von ihnen schien die Verbindung dieser Verbrechen zu den regulären Funktionsmechanismen westlicher Industriegesellschaften so evident, dass sie Auschwitz als Resultat der Moderne deuteten.

Wolfgang Sofsky, Autor der ausgezeichneten Studie „Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“ hat in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. Mai dieses Jahres Traversos Studie heftig angegriffen: Der Forscher habe keinen Sinn für viele andere intellektuelle Pioniere, die – wie zum Beispiel Ernst Bloch oder Norbert Elias – mit ihren Arbeiten direkt oder indirekt auf die Shoah reagierten. Darüber hinaus taugten die von ihm verwendeten großformatigen Begriffe einer Geschichts-, Zivilisations- und Gesellschaftstheorie der Moderne eher zum Entwurf von Weltbildern, sie seien jedoch immun gegen konkrete Detailanalyse. Außerdem bemängelt Sofsky, dass der Diskurs über die Modernität von Auschwitz von alten Affekten der Kulturkritik gespeist werde, denen Traverso jedoch an keiner Stelle seiner Studie nachgehe.

Insbesondere diesem letzten Kritikpunkt Sofskys ist zuzustimmen. Vor allem in Deutschland ist die Vorstellung, dass Auschwitz ein Produkt des westlichen Kapitalismus – ja, ein Ergebnis der Säkularisierung und des Modernisierungsprozesses sei, immer wieder dazu verwendet worden, die Verantwortung der deutschen Täter und Zuschauer sowie die politische Haftung ihrer Kinder und Enkel zu relativieren. Stattdessen wird nicht selten eine unbestimmte Klage über allgemeine Ambivalenzen westlicher Zivilisation angestimmt, die gegenwärtig bruchlos in eine Globalisierungsschelte übergeht.

Trotzdem hat Traverso ein lesenswertes Buch geschrieben. Seine Studie beschreibt präzise die geistigen und moralischen Wandlungen einiger intellektueller Pioniere, die – lange missachtet – unseren Blick auf die Shoah geschärft haben. Ihre Studien und Aufsätze standen in den Vierziger- und Fünfzigerjahren gegen eine Welt, die den Zivilisationsbruch überhaupt nicht als solchen wahrnahm. Da es sich bei der Vernichtung der europäischen Juden um ein neuartiges Verbrechen handelte, mussten die gewohnten Denkkategorien und Interpretationsmuster überwunden werden, um das Geschehene zu verstehen. Traverso macht diese Diskurswende sichtbar. Das ist sein Verdienst.

Enzo Traverso: „Auschwitz denken – Die Intellektuellen und die Shoah“, Hamburger Edition, 2000, 368 Seiten, 58 DMZum gleichen Thema von Traverso:„Die Juden und Deutschland – Auschwitz und die ‚jüdisch-deutsche Symbiose‘ “, Berlin 1993, Basisdruck, 243 Seiten, 28 DM„The Marxists an the Jewish Question – The History of a Debate 1843 – 1943“, New Jersey 1994, Humanities Press International, 276 Seiten, 24,10 DM „Understanding the Nazi Genocide: Marxism after Auschwitz“, Pluto Press 1999, 35,57 DM