Unzerstörbar unbewusst

Allen Entschlüsselungen der menschlichen Genomstruktur zum Trotz: Roboter werden humanes Empfinden nie lernen können. Ein Plädoyer für die Psychoanalyse, hundert Jahre nach deren Begründung durch Sigmund Freud. Im Blickpunkt: das Unbewusste, die psychische Instanz, die sich jeder Klonierung entziehen wird

von PETER SCHNEIDER

Zunächst in französischer Sprache, dann auf deutsch in der Imago veröffentlicht Sigmund Freud 1925 einen kleinen Aufsatz über „Die Widerstände gegen die Psychoanalyse“. Der Mensch sträube sich gegen die Zumutungen der psychoanalytischen Erkenntnisse, wie „sich der Säugling schreiend von einem fremden Gesicht abwendet“.

Die Analyse widerspreche den Denkgewohnheiten sowohl der Mediziner, welche „in der alleinigen Hochschätzung anatomischer, physikalischer und chemischer Momente erzogen worden“ sind, als auch denen der Philosophen, die „in ihrer überwiegenden Mehrzahl“ Seelisches und „Bewusstseinsphänomene“ miteinander gleichsetzten. Die „psychoanalytische Auffassung vom Verhältnis des bewussten Ichs zum übermächtigen Unbewussten“ stelle „eine Kränkung der menschlichen Eigenliebe“ dar, die Betonung des Trieblebens entlarve den Zustand der „Kulturheuchelei“ und könne darum nicht mit allzu freundlicher Aufnahme rechnen.

Kurz: Die Gesellschaft verhalte sich ebenso ablehnend gegenüber den Aufklärungen der Psychoanalyse wie der Neurotiker in der psychoanalytischen Kur. Und „endlich“ wirft Freud die Frage auf, „ob nicht seine eigene Persönlichkeit als Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil gehabt hat. Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, dass der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen.“

Merkwürdig und bemerkenswert an dieser Liste der Widerstände ist, dass Freud sie zu einem Zeitpunkt niederschreibt, als die Psychoanalyse sich einer öffentlichen Anerkennung erfreuen kann wie nie zuvor in ihrer Geschichte: Freuds „Erfindung“ ist nüchtern betrachtet längst ein international erfolgreiches Wiener Exportprodukt. Die Utopie, die Freud 1910 anlässlich der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als eine der „Zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie“ verkündet hatte, nähert sich ihrer Verwirklichung: Was Freud dort die „Allgemeinwirkung unserer Arbeit“ nennt, hat in einem gewissen Sinne tatsächlich stattgefunden: „Die Kranken können ihre verschiedenen Neurosen, ihre ängstliche Überzärtlichkeit, die den Hass verbergen soll, ihre Agoraphobie, die von ihrem enttäuschten Ehrgeiz erzählt, ihre Zwangshandlungen, die Vorwürfe wegen und Sicherungen gegen böse Vorsätze darstellen, nicht bekannt werden lassen, wenn allen Angehörigen und Fremden, vor denen sie ihre Seelenvorgänge verbergen wollen, der allgemeine Sinn der Symptome bekannt ist, und wenn sie selbst wissen, dass sie in den Krankheitserscheinungen nichts produzieren, was die anderen nicht sofort zu deuten verstehen.“

Zwar hat Freud den Einfallsreichtum der Neurotiker unterschätzt; aber offenkundig hat die Popularisierung der Psychoanalyse zu einer Veränderung der „Krankheitserscheinungen“ beigetragen, von deren Therapie sie ihren Ausgang nahm. Die Hysteriker von 1925 (ebenso wie die von heute) sind nicht mehr die, die sie in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts gewesen wären, als Freud und andere ihnen das Geheimnis der Hysterie zu entreißen versuchten.

„Wir kennen drei Einsamkeiten in der Gesellschaft“, schreibt Richard Sennett in einem mit Michel Foucault verfassten Diskussionspapier. „Wir kennen eine Einsamkeit, die von der Macht aufgezwungen ist. Das ist die Einsamkeit der Isolation, der Anomie. Wir kennen eine Einsamkeit, die bei den Mächtigen Furcht auslöst. Das ist die Einsamkeit des Träumers, des homme revolté, die Einsamkeit der Rebellion. Und schließlich gibt es eine Einsamkeit, die mit der Macht nichts zu tun hat. Es ist eine Einsamkeit, die auf der Idee des Epiktet beruht, dass es einen Unterschied gibt zwischen einsam sein und allein sein. Diese dritte Einsamkeit ist das Gespür, unter vielen einer zu sein, ein inneres Leben zu haben, das mehr ist als eine Spiegelung der Leben der anderen. Es ist die Einsamkeit der Differenz.“

Die Psychoanalyse ist heute noch die avancierteste und radikalste Theorie dieser Einsamkeit der Differenz. Bei Freud selbst jedoch vermischen sich die Konturen dieser erkenntnistheoretischen Bestimmung der Psychoanalyse immer wieder mit den konventionellen Bildern einer Selbststilisierung als von der Gesellschaft geächteter beziehungsweise gegen die Gesellschaft rebellierender Wissenschaftler. Seine Beschwörung der „Widerstände gegen die Psychoanalyse“, das Insistieren auf der Position der splendid isolation wäre in dieser Perspektive eine Projektion des einzigartigen epistemologischen Status der Psychoanalyse in die biografischen Bedingungen ihrer Entstehung.

Was aber soll „Einsamkeit der Differenz“ im spezifischen Zusammenhang der Psychoanalyse heißen? Es bedeutet die Entdeckung der Differenz nicht nur in Bezug auf den anderen, sondern einer Differenz im Subjekt selbst, die dieses wesensgemäß von sich selbst entfremdet. Immer wieder formuliert Freud seine Theorien neu, aber gleich, ob er den „psychischen Apparat“ in der Terminologie von Bewusst und Unbewusst oder Es, Ich und Überich beschreibt, ob er seine Triebtheorie auf den Gegensatz von Sexual- und Selbsterhaltungs-, Ich- und Objekttrieben oder auf der Dualität von Eros und Todestrieb gründet: Immer ist das Subjekt zugleich weniger und mehr, als es zu sein vermeint. Weniger: Es ist nicht autonom; mehr: Sein Wissen hat sein Fundament in einem Nichtwissen, das alles andere als ein Defizit darstellt.

1919 erscheint ein Aufsatz Karl Abrahams, der Freuds Einschätzung der von ihm entworfenen „Zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie“ wesentlich geändert und sein (nur dürftig verborgenes) nostalgisches Sehnen nach den guten alten (lärmenden und äußeren) „Widerständen gegen die Psychoanalyse“ geweckt haben dürfte. Die Arbeit seines Berliner Kollegen trägt den Titel: „Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik“.

Patienten, die durch diese Widerstandsform charakterisiert sind, „erklären kaum jemals spontan, dass ihnen nichts einfalle. Sie sprechen vielmehr in zusammenhängender, selten unterbrochener Rede. Ihr Widerstand verbirgt sich hinter scheinbarer Gefügigkeit. Anstelle der Übertragung finden wir die Neigung, sich mit dem Arzt zu identifizieren. Sie nehmen seine Interessen an und lieben es, sich mit der Psychoanalyse als Wissenschaft zu beschäftigen.“ Für diese merkwürdige Art des Widerstandes, die uns heute, da für uns das Unbewusste längst allzu selbstverständlich „strukturiert ist wie Freuds Sprache“ (Harold Bloom), kaum mehr besonders exotisch erscheint, macht Abraham den Narzissmus der Patienten verantwortlich.

Wie der von Freud unterstellte Todestrieb wirkt dieser Widerstand von innen; er wirkt durch die Leugnung der Differenzen, er lähmt die Methode der Psychoanalyse durch Übereinstimmung mit ihr. So scheitert die Psychoanalyse an ihrem eigenen (kulturellen) Erfolg, da sie mehr und mehr „selbst die Kultur“ geworden ist, „die sie zu beschreiben vorgibt“ (Bloom). Die dem Narzissmus eigentümliche Funktion ist, das Bild einer Ganzheit des Subjekts phantasmatisch zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Mit seinem synthetischen Anspruch ist er der Widersacher der Psychoanalyse par excellence.

Nicht ohne Grund verwendet Freud seine schärfsten Polemiken nicht auf die Widerlegung der äußeren Gegner – deren Gegnerschaft dient ihm vielmehr als Bestätigung –, sondern auf die auf Synthesen abzielenden Theorien ehemaliger Schüler wie Adler und Jung. Alle wichtigen innerpsychoanalytischen Kontroversen, aus denen Abspaltungen wurden, basieren auf einem je spezifischen Vergessen, und zwar in der Gestalt einer Vervollständigung oder Ergänzung der Psychoanalyse zu einem System. „Ich fürchte“, so Freud am 5. Juni 1917 warnend an Georg Groddek, „Sie sind auch ein Philosoph und haben die monistische Neigung, alle die schönen Differenzen in der Natur gegen die Lockung der Einheit geringzuschätzen. Werden wir damit die Differenzen los?“

Dass die Psychoanalyse die Wissenschaft vom Unbewussten ist, lautet eine gängige Beschreibung, denn obwohl sie das große Paradox, die Aporie der psychoanalytischen Theorie, benennt, kaschiert sie es zugleich. So markiert die Psychoanalyse den Ort einer unmöglichen Wissenschaft. Freud macht mit dem Satz des Sokrates, er wisse nur, dass er nichts wisse, Ernst und führt ihn über die abstrakte Negation hinaus.

Gewöhnlich sind wissenschaftliches Lehren und Lernen am Ideal wenn nicht der Vollständigkeit, so doch wenigstens an dem der Vervollständigung des Wissens orientiert. Doch gerade hinsichtlich dieses Ideals widersetzt sich die Psychoanalyse auf eine für sie charakteristische Weise den gängigen Modellen jeder akademischen Wissensvermittlung. Denn das Unbewusste ist kein Reservoir von (noch) verborgenen Inhalten, das auszuschöpfen oder auszuleuchten wäre. Das Unbewusste lässt sich also nicht – nicht einmal idealerweiser – in Bewusstsein überführen. Unbewusstes kann man (anhand von bewusstem Material wie zum Beispiel Träumen) deuten, aber nicht aufheben.

Die Deutung des Unbewussten ist ein Spiel ohne Ende, denn auch an jeder (bewussten) Deutung hat das Unbewusste immer schon mitgewirkt. Mit anderen Worten: Das Wissen, das die Psychoanalyse als Theorie des Unbewussten produziert, muss stets seine notwendige Verflechtung mit einem Nichtgewussten mitbedenken.

Zur selben Zeit, 1925, als er über „Die Widerstände gegen die Psychoanalyse“ schreibt, entwirft Freud in einer kleinen Arbeit mit dem harmlosen Titel „Die Verneinung“ eine imposante Erkenntniskritik: „Vermittels des Verneinungssymbols macht sich das Denken von den Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren kann. In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: Das will ich essen oder will es ausspucken; und in weitergehender Übertragung: Das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen. Also: Es soll in mir oder außer mir sein.“

Wissen also als Ausscheidungsprodukt des Unbewussten (oder umgekehrt – je nachdem, wie man den Sachverhalt pointieren möchte); der Widerstand ist hier nicht etwas die Erkenntnis Behinderndes, sondern gerade dasjenige Moment, das sie hervorbringt.

Ein Gespenst geht um in der Wissenschaft – das Gespenst der Psychoanalyse. Es mahnt an die Schuld der Wissenschaft gegenüber demjenigen, das sich dem Wissen entzieht und es zugleich erst konstituiert: das Unbewusste.

PETER SCHNEIDER, Jahrgang 1957, ist Psychoanalytiker in Zürich. Im Frühjahr 2001 erscheint von ihm bei Vandenhoeck & Ruprecht der Aufsatzband „Vergesst Freud!“