Im „Todesdreieck“ lebt keiner gern

Strom nur für Soldaten, kein Geld für den Wiederaufbau: In der einstigen Hochburg von Algeriens radikalster Islamistenguerilla schimpfen mittellose zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge immer lauter über den Staat, der sich nicht um sie kümmert

aus Ouled Allel REINER WANDLER

„Die Behörden haben uns vollständig vergessen!“, wettert Mohammed. Der 40-jährige Kleinbauer steht mitten in einem Trümmerfeld. Ein paar schwer beschädigte Häuserblocks stehen noch hier im „Quartier Kabyl“. Die anderen beiden Ortsteile des einst 10.000 Einwohner zählenden Ouled Allel sind vollständig zerstört. Ein Haufen Bauschutt, den langsam die Dornen überwuchern, und daneben ein Baum, das ist alles, was auch von Mohammeds Bleibe übrig ist.

„Was die Terroristen nicht gesprengt haben, das hat die Armee mit Hubschraubern und Kampffliegern in Schutt und Asche gelegt“, erzählt Mohammed. Im Herbst 1997 nahmen die Soldaten in wochenlangen Gefechten mit schwerem Gerät den Ort 21 Kilometer außerhalb von Algier ein, der in der örtlichen Presse längst den Namen „Hauptquartier der GIA“ (Bewaffnete Islamische Gruppen) bekommen hatte. Vor über einem Jahr versprach der damals frisch gekürte Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika Entschädigung für die, die dabei ihr Hab und Gut verloren. „Wir haben sofort einen Antrag gestellt, doch bisher ist nichts geschehen“, beschwert sich Mohammed.

Dass die Bewaffneten nicht nur hier im Ort, sondern in der gesamten Mitidja, der fruchtbaren Ebene zwischen Algier und dem Atlasgebirge, anfänglich breite Unterstützung genossen, darüber will hier heute niemand mehr reden. Bei den Wahlen von 1992, deren Annullierung durch die Armee Algerien in den Bürgerkrieg führte, wählten in Ouled Allel große Teile der Bevölkerung die später verbotene Islamische Heilsfront (FIS). Nach dem Abbruch der Wahlen durch die Armee entstanden spontan bewaffnete Banden. Verwaltung und Polizei zogen sich nach und nach zurück: Die großen Städte und Landstraßen wurden gesichert, der Rest isoliert. Ab 1995 verschanzten sich in Ouled Allel junge Islamisten. Der Ort liegt günstig: Die einzige Zufahrt führt über eine Brücke.

„Ab 1995 passierte ich täglich auf dem Weg zur Arbeit zwei Sperren. Die der Islamisten auf unserer Seite der Brücke und die der Armee auf der anderen Seite“, erinnert sich ein Bewohner. Als das von den radikalen Islamisten errichtete Regime bei der Bevölkerung mehr und mehr auf Ablehnung stieß, versank die Region in Gewalt. „Todesdreieck“ hieß die Mitidja fortan. „Ende 1996 klebten GIA überall Plakate, auf denen sie uns eine Woche gaben, den Ort zu verlassen“, erinnert sich Mohammed, der mit seiner Familie zu einem Schwager 150 Kilometer östlich zog. Die Islamisten sprengten die Brücke und bauten den Ort zu einem Labyrinth aus Waffenlagern, Unterschlüpfen und Geheimgängen aus. Von hier aus operierten die Gruppen, die für die blutigsten Massaker des algerischen Konflikts verantwortlich zeichneten. Erst 1997 rückte die Armee wieder ein. Viele der bewaffneten Islamisten entkamen durch Fluchttunnel.

„Ich kam Ende 1998 zurück, wie viele andere Einwohner auch“, erinnert sich Mohammed. „Damals war noch alles vermint.“ Mittlerweile leben wieder 1.500 bis 2.000 Einwohner im Quatier Kabyl – doppelt so viele waren es einst. Aus den anderen beiden Ortsteilen ist kaum jemand zurückgekommen. Dort stehen nicht einmal mehr Ruinen.

Der Schweißer Kamel und seine Familie gehören zu denen, die Nachbarn aufgenommen haben. Sie hatten mehr Glück als Mohammed. Ihr Haus war noch zu reparieren. „Somit haben wir zwar ein Dach über dem Kopf, aber allerdings auch keinen Anspruch auf staatliche Gelder, dazu muss das Haus völlig zerstört sein“, erzählt er und beschwert sich; „Wir haben hier weder fließend Wasser noch Strom.“ Kamel zeigt auf einen gelben Plastikkanister, mit dem er zum einzigen Hydranten gekommen ist, der weit und breit noch funktioniert. Einer nach dem anderen steigen die Menschen hinab in die schlammige Grube und fühlen mit einem Schlauch ihre Wasserbehälter.

„Wir haben nicht einmal eine Schule“, beschwert sich Mohammed. Zwar wurde das Gebäude am anderen Ende des Ortes, dass einst von den GIA zerstört wurde, wieder notdürftig hergerichtet, doch jetzt beherbergt es Soldaten und Gendarmen statt Kinder. Im Schaft des mehrere Dutzend Meter hohen pilzförmigen Wasserturmes gleich daneben klafft ein riesiges Loch, aus dem ein wirres Knäuel aus verbogenen Eisenstäben ragt. Die Moschee auf der anderen Straßenseite ist ausgebrannt. Ein paar Meter weiter ziehen Arbeiter Stromleitungen – doch sie führen erst einmal nur zu den Unterständen der Armee und kommunalen Garden.

Nur die neue Brücke ist mittlerweile fertig gestellt. Daneben liegt noch immer die alte Fahrbahn zusammengeknickt wie der aufgezogene Balg eines Akkordeons im Flussbett, die Pfeiler durch Sprengladungen zerstört. Seit ein paar Monaten rollen wieder Lkws mit Baumaterial über die Brücke nach Ouled Allel. Der Staat baut am Ortseingang Sozialwohnungen. Doch das interessiert hier niemanden. Umgerechnet 7.000 Mark soll eine Wohnung kosten – im Rohzustand, ohne Innenwände oder Türen. „Wir haben dafür eh nicht das Geld“, sagt Mohammed.

Obwohl die Erde hier sehr fruchtbar ist, pflanzt Mohammed auch im zweiten Sommer seiner Rückkehr kaum etwas an. Er weist seinen Sohn an, den Trümmeracker zu fotografieren. „Um wieder einmal eine Eingabe zu machen. Irgendwer muss ja für den Schaden aufkommen.“