Der letzte Ausbruch

Sommer in Island: Reykjavík ist eine von neun Kulturhauptstädten 2000. Künstliche Geysire spucken Waschpulver und Schmierseife aus, ansonsten bleibt die wilde Natur erhalten und Wind gibt es gratis
von WOLFGANG MÜLLER

Ob alle Besucher einen so aufregenden Aufenthalt haben werden wie die 33 schwulen Ledermänner vom MSC München, die im Juni den nördlichsten Lederclub der Welt, den MSC Island, besuchten, kann natürlich nicht garantiert werden. Auf jeden Fall bebte am 17. Juni die Erde mit immerhin 6,6 auf der Richterskala, während die Ledermänner dicht gedrängt am Kai von Reykjavík die Abfahrt eines nachgebauten Wikingerschiffs nach Neufundland verfolgten. Zum Glück plumpste niemand ins eiskalte Meer – was an einem anderen Ort Islands überhaupt kein Problem gewesen wäre. Am Tag des größten Bebens seit 1912 wurde nämlich der Ylströnd in der Nauthólsvík, der Kuhbergbucht, eröffnet. Überschüssiges heißes Wasser aus Heizungsanlagen und Gewächshäusern wird seither mit kaltem Meerwasser gemischt und 20 Grad warm in die Bucht geleitet, die zuvor mit gelbem Sand vom Meeresgrund aufgepeppt wurde. Denn die Strände auf Island sind bis auf wenige Ausnahmen angenässt pechschwarz.

Die Kulturhauptstadt 2000 Reykjavík zeigt anschaulich, wie eng die Begriffe Kunst, künstlich, Kultur und Natur zusammenhängen. Oberhalb des Ylströnd, des Wärmestrands, schleudert seit drei Jahren ein künstlicher Geysir – der erste menschengemachte der Welt – heiße Fontänen in die Höhe. Ein anderer Geysir, nämlich der Geysir „Geysir“, nach dem alle Geysire der Welt benannt sind und der damit die Ehre hatte, ein isländisches Wort in die Sprachen der Welt zu tragen, schlummert dagegen seit Jahrzehnten regungslos in seinem Becken. Die Aktivierung gelingt nur mit Hilfe von Waschpulver und Schmierseife. Im Kulturjahr hat man nun den kleinen Kunstgriff gewagt und ihn am 8. Juni zum Ausbruch bewegt. Hilmar Hilmarsson, Filmkomponist, von Frídrik Thór Fríkriksson („Children of Nature“): „Es ging dabei wohl um geologische Forschungen. Wir haben Tonnen von Filmmaterial gedreht, es könnte ja durchaus der letzte Ausbruch gewesen sein.“

Im Kunstmuseum Kjarvalstadir packt derweil der Künstler Sigurthór Hallbjörnsson seine wunderbare Fotodokumentation ein, auf der alle Tankstellen Islands zu sehen sind. Doch Sigurthór muss gleich wieder ran, um in der Galerie i8 die anlaufende Ausstellung des britischen Künstlers Tony Cragg zu dokumentieren. Galeristin Edda Jónsdóttir betreibt seit November 1995 die wohl wichtigste private Galerie des Landes. Eigentlich war sie ursprünglich selbst Künstlerin. Doch dann gründete sie die Galerie i8, die auf 100 Quadratmetern moderne isländische und internationale Künstler in ausgewogener Mischung zeigt: „Ich war einfach müde von den schlechten Ausstellungen in Reykjavík“, begründet sie ihr Engagement. Ob sie es denn bereue, selbst keine Kunst mehr zu produzieren? „Oh nein, ich bin jetzt mehr Künstlerin als zuvor“, meint Jónsdóttir, und man glaubt es ihr sofort. Tatsächlich wird das Kulturleben in Reykjavík hauptsächlich durch Künstler selbst organisiert, der bürokratische Zwischenbau fällt hier weg. Wie ist das alles zu finanzieren? Der Bildhauer Krístinn E. Hrafnsson, selbst Ausstellungsorganisator, lacht auf: „Das ökonomische Prinzip ist sehr einfach: Die Künstler zahlen!“

Andererseits wird kein Künstler um seinen guten Ruf bangen müssen, wenn seine Bilder etwa im Künstlercafé Mokka oder im Edelrestaurant Sólon Íslandus gezeigt werden. Weltbekannte Künstler wie Ilja Kabakov haben in Reykjavík schon im Vorraum einer Zweizimmerwohnung ausgestellt, der allerdings auch als Galerie fungierte. Standesdünkel, wie sie manch verkrachte Künstlerexistenz auf dem Kontinent als Mitbringsel der 80er-Jahre noch mit sich herumschleppt, hat es hier nie gegeben. Stattdessen werden immer wieder neue Gelegenheiten ausgekundschaftet. So hat die isländische Vereinigung der bildenden Künstler FÍM für das Festival Reykjavík 2000 die Wasserkraftwerke Laxá und Ljósafoss als Ausstellungsorte entdeckt. Letzteres sieht mit seiner rohen Fassade einem Museum moderner Kunst zum Verwechseln ähnlich. Das Laxá-Kraftwerk dagegen schafft mit seinen kahlen, in den Felsen gehauenen Tunnelwänden eine wohl einzigartige Kulisse für die Werke der Bildhauer.

Über 250 Programmteile bietet das Kulturjahr in Reykjavík an, überschrieben mit den Naturelementen Erde, Feuer, Wasser und Luft. Zum Thema Luft gehört das Windfestival 2000 im September, zu dem Windharfen aus Thorshaven von den Färöer-Inseln am Hafen ihre Naturtonleiter erklingen lassen. Wind gibt es ja eigentlich immer, gratis und mehr als genug.

Derweil hat Myndhöggverafélagid, die Gesellschaft der isländischen Bildhauer ihren Skulpturenboulevard vom Süden jetzt auf die Küstenlinie des Nordens von Reykjavík ausgedehnt. Schon vor zwei Jahren begannen die Bildhauer, den Strand mit ihren Objekten zu bestücken. Wenig Begeisterung zeigt die Künstlerin Ásta Ólafsdóttir: „Ich verstehe überhaupt nicht, dass Künstler ihre Objekte überall hinstellen müssen, wo es sowieso schön ist. Das ist doch völlig überflüssig. Selbst am Thingvellir-Nationalpark steht jetzt überall Kunst herum.“

Den Wellen des Atlantiks ist das egal. Sie nagen ungerührt an den am Strand liegenden großen, steinernen Buchstaben „náttúra“ von Borghildur Óskarsdóttir. Die Blöcke sind aus isländischem Beton, der wiederum aus Muschelsand gemixt wird. Der bisweilen sehr heftige Wind lässt die glitzernen Blechmobiles an Magnús Pálssons bizarrem Pfluggebilde mit dem Titel „Hrognkelsisveisla“, Fischparty, klingeln. Falls die 30 Objekte und Skulpturen nicht im Museum landen, kann man gespannt sein, was die Archäologen in zweihundert Jahren über sie zu erzählen haben.

Für die Freunde des Internets: Galerie i8: www.i8.is; Wasserkraftwerk: www.umm.is (unter FÍM suchen); Windfestival: www.arkitekt.is/dus

Hinweis:Das Wasserkraftwerk sieht einem Museum moderner Kunst zum Verwechseln ähnlich