: Der Mensch ist, was er tut
Exotismus als Weltsprache auf dem Kunstbasar: Die von Jean-Hubert Martin kuratierte 5. Biennale von Lyon macht zwischen den Kulturen in Ost und West, Süd und Nord keinen Unterschied mehr
von HANS VON DER BRELIE
Jean-Hubert Martin ist der Exot unter den internationalen Ausstellungsmachern. Mit dem Tretroller fährt der 55-jährige Straßburger durch die 17.000 Quadratmeter umfassende Tony Garnier Halle, wo die 5. Biennale in Lyon stattfindet. Die Überblicksschau mit zeitgenössischer Kunst hat er „Partage d'Exotismes“ benannt. Im Mitteilen, Aufteilen, Unterteilen, Verteilen, kurz in jedwelchem Teilen von Fremdheiten hat es Martin zu einer einsamen Meisterschaft gebracht: Einerseits gilt er als Tabubrecher innerhalb der Kuratorenszene, andererseits wird er als ein definitionsmächtiger Erweiterer des Kunstbegriffes geschätzt. 1976 organisierte er die Picabia-Retrospektive im Pariser Grand Palais, es folgten „Paris–Berlin“ (1978), „Paris–Moskau“ (1979), „Man Ray“ (1982) – alles Meilensteine der Ausstellungsgeschichte. Von 1982 bis 1985 leitete Martin die Kunsthalle in Bern, 1987 wurde er an die Spitze des Pariser Musée National d'Art Moderne berufen, wo er 1989 mit der Ausstellung „Magiciens de la Terre“ für Aufsehen sorgte.
Damals öffnete Martin das Museum für den Dialog mit Afrika und Asien. Doch, Handwerk kann auch Kunst werden, behauptete Martin frech; und: Doch, auch Religion kann durch Kunst reden! „Magier der Erde“ war denn auch eine der ersten Kunstausstellungen, die sich nicht westlichen Kunstsprachen widmete. Mit „Geteilte Exotismen“ setzt Martin in Lyon nun den damals begonnenen Dialog fort. Vom Kult zur Kultur und von dort zur zeitgenössischen Kunst ist es ein kleiner Schritt, wenn man sich, wie Martin, die Freiheit nimmt, „zeitgenössisch“ nicht anhand eurozentristischer Avantgarde-Begrifflichkeiten zu verstehen, sondern als Gleichzeitigkeit im globalen Verbund.
Martin knüpft inhaltlich an das Thema der vorherigen, von Harald Szeemann kuratierten Lyoner Kunstbiennale mit dem Motto „L'Autre“ an. Gemeinsamer Nenner von Szeemann und Martin ist der fremde Blick auf Vertrautes und der eigene Blick auf das Fremde. Formal geht Martin jedoch einen radikal anderen Weg: Hatte Szeemann die 210 Meter lange, pfeilerlose Schlachtviehhalle Tony Garnier mit weißen Riesenwürfeln bestückt und dort ein amüsantes Himmel-und-Hölle-Spiel in der Art eines „Alles ist machbar“ entworfen, so reiht Martin die Werke der 117 eingeladenen Künstler in einer vier Kilometer langen, gewundenen Gasse. Abkürzungen gibt es keine, kleine weiße Pfeile auf dem Hallenboden geben die Richtung in diesem verschlungenen Weltkunstbasar mit autoritärem Gestus zwingend vor. Rohe Sperrholzwände und einfache blaue Baumwolltücher schaffen Ecken, Winkel, Durchgänge. Der Schritt des Besuchers wird durch Engpässe, Hindernisse, Freiflächen mal gebremst, mal beschleunigt. Was aber wäre universeller als ein Marktplatz, ein Souk, ein Basar, eine Mall, eine Passage? Walter Benjamin lässt grüßen.
Bei der Vorbereitung der Ausstellung hat Martin nicht nur, wie üblich, mit Kunsthistorikern zusammengearbeitet, sondern auch mit Anthropologen. Martin und seine fünf Berater entschieden, die Installationen, Fotos, Filme, Gemälde, Collagen, Plastiken statt nach geografischen oder formalästhetischen Kriterien unter 22 Verben einzuordnen: befremden, verkörpern, klonen, tätowieren, maskieren, kleiden, wohnen, transportieren, essen, lieben, sexualisieren, tauschen, kämpfen, eingrenzen, leiden, heilen, sterben, verehren, beten, interpretieren, entgrenzen, vorhersagen. Der Mensch ist, was er tut.
Den Auftakt dieser kultursprachlichen Menschheitsgenese haben Martin und Company „exotiser“ getauft: Werke, die den Besucher aus seiner kulturellen Selbstgewissheit reißen, egal ob er aus Köln oder Kapstadt, aus Paris oder Peking, aus New York oder Nairobi angereist ist. Da ist beispielsweise „Der Kunstsammler“ (1994), eine Installation des bulgarischen Künstlers Nedko Solakov. Eine Hütte, Sand, Strohdach, beschriebene Pappkartons: „Irgendwo in Afrika gab es einen schwarzen Mann, der in seiner Hütte Kunst aus Europa sammelte . . .“ Auf dem Hüttenboden wiederum liegen Neonröhren Dan Flavins, doch sie leuchten nicht, es fehlt der Anschluss an den elektrischen Strom – und an das spezifische Konzeptnetzwerk.
Seinen Picasso bezahlte der fiktive Kunstsammler mit 23 Kokosnüssen, seinen frühen Rauschenberg mit sieben Antilopenknochen . . . Solakovs sarkastische Parodie auf die ökonomischen Delirien kapitalistischer Kunstmarktinvestoren verweist auf den Fetischcharakter der Kunst und führt hinüber in die Abteilung „verkörpern“, zu Pawel Althamer. Der Pole stellt Brüste aus Wachs und Menschen aus getrockneten Schweinsblasen aus – was ist exotischer als die Oberfläche des Menschen? Daniel Canogar aus Spanien schickt nebenan Lichtbilder durch die Tentakelinstallation seiner Glasfaserprojektoren: „Sentience“ (1999) erkundet Hautfalten, Speckschwarten, Achselabgründe, Faltenberge, Körperwinkel des Planeten Mensch. Die Expedition über die körperweltlichen Oberflächen endet für den Besucher im Schweine-Imperium des französischen Künstlers Jackie Kayser, der die „Drei Grazien“ von Rubens ins Animalische überträgt.
Erstaunlich viel Platz haben die Ausstellungsmacher den Kapiteln „tätowieren“ und „maskieren“ eingeräumt. Auch hier hat Martin die Gefahr, allzu leicht in die völkerkundliche Dokumentationsfalle zu tappen, gewittert. Er zeigt nicht die Meisterwerke kunsthandwerklicher Perfektion, sondern die Grenzüberschreitung. Tatsächlich geht die französische Künstlerin Orlan bis zur Selbstverstümmelung.
Vom „Maskieren“ zum „Bekleiden“ ist es nicht weit. „Mr & Mrs Andrews Without their Heads“ (1998) entsprechen dem Ausstellungsthema „Geteilte Exotismen“ am direktesten. Yinka Shonibare hat seine Doppelfremdheit (er stammt aus Nigeria und ist Untertan der britischen Königin) in die räumliche Replik eines Gemäldes von Gainsborough übersetzt. Das kopflose Ehepaar Andrews ist in Gewänder viktorianischen Zuschnitts gekleidet, die Stoffe erinnern allerdings an die Farbenfreude Afrikas. Doch auch hier ist keine Spur von Nostalgie-Exotik zu finden, schließlich stammen die „typisch afrikanischen“ Stoffmuster aus den Niederlanden.
„Partage d'Exotismes“ ist das genaue Gegenstück der naiven, in Frankreich um 1900 so beliebten Kolonialwarenausstellungen. Martin trägt den (lukrativen) Mythos des „edlen Wilden“ endgültig zu Grabe – und damit auch seinen Widerpart, den des „edlen Zivilisierten“. Die Abteilungen „kämpfen“, „leiden“, „sterben“ sind voll solcher ironischer Doppelbegräbnisse. Der Taiwanese Chen Chieh-Jen etwa hat fünf historische Fotodokumente barbarischer Kriegsgräuel ins Gigantische vergrößert und dabei die Köpfe der Opfer durch sein eigenes schmerzverzerrtes Gesicht ersetzt. Andreas Dettloff (Deutschland/Polynesien) verziert eine „Meine Ahnen“ betitelte Serie aus 34 falschen Schrumpfköpfen gleichermaßen mit den Insignien atlantischer und pazifischer Kulturen – der elegante Coca-Cola-Schnörkel gliedert sich in die Linienmuster der Maori-Tätowierungen ein. Zuletzt hat die mexikanische Künstlergruppe Semefo Fohlenföten in ein makabres Karussell des Todes gekettet: Es gibt kein friedliches Diesseits, keine wahre Primitivkunst, keinen echten Kulturzustand, keine unverfälschte Naturkunst – nur den utopischen Wunsch danach.
Die Exotik, besser die Fremdheit des Todes, steht am Anfang allen Kultes, aus dem sich spätere Kulturformen ergeben haben. Der ernsten Absolutheit des Todestabus jedoch begegnen alle Kulturen mit der relativierenden Tabulosigkeit des Lachens. So ist es wohl kein Zufall, dass das Verb „lachen“ in dem Martinschen Expo-Konzept als eigene Verbund-Werk-Kategorie völlig fehlt – es ist in sämtlichen Exponaten präsent. Es darf gelacht werden, über den Anderen, über das Eigene, über das Eigene im Anderen, über das Fremde im Eigenen. Und so darf etwa über das Ausstellungsplakat mit dem Foto „German Indians: Knifethrower“ von Andrea Robbins (USA) und Max Becher (Deutschland) gelacht werden, das einen büffelgehörnten Laiendarsteller der Karl-May-Festspiele zeigt. Mit ebensolchem Humor begegnet man am Ende auch dem fünf Meter langen, 30 Zentimeter hohen Foto, das der chinesische Lichtbildner Zhuang Hui am 7. Juni 1986 in Peking aufnahm und das den todernsten Titel trägt „Treffen zwischen den Präsidiumsmitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas, des Staates und allen Repräsentanten des dritten Nationalkongresses der wissenschaftstechnologischen Vereinigung Chinas“.
Bis 24. 9., Tony Garnier Halle, Lyon
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