Nur der Wind bleibt

Heute wandern Besucher hindurch, früher war er das Prachtstück von Reichsluftfahrtminister Görings Träumen: Der Windkanal in Adlershof
von PETER BERZ
und MARKUS KRAJESKI

Von diesen Stätten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!

Als die taz vom 26. September 1995 der Vereinigung von Raketenwissenschaft Ost und West nachspürte, da ragte auf dem inzwischen vergilbten Zeitungsausschnitt dem Leser das Foto eines riesigen, schwarz verdreckten Monsters aus Beton entgegen: der Große Windkanal der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Adlershof, erbaut im Jahre 1934.

Seitdem ist die Welt schöner geworden mit jedem Tag. Die von Granatsplittern und MG-Salven pockennarbigen Gründerzeitfassaden sind bald alle zugespachtelt, und seit einem Jahr erglänzt auch der Große Kanal ohne Bombenlöcher und ganz original in Silberfarbe getaucht. So steht jetzt das Bauwerk aus vier im Rechteck zusammengemauerten Betonröhren von 5 mal 7 Metern Durchmesser nahe dem alten Flugfeld Johannisthal als Wahrzeichen einer neuen Wunderwelt Wista, des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorts Berlin-Adlershof. Als eifere er jenem Wahrzeichen der Stadt Göttingen in den 30er-Jahren nach, dem Großen Windkanal, von Flugzeugpiloten als Orientierung geschätzt und von alliierten Bombern sicher nicht verachtet.

Durchs Innere des Kanals von Adlershof werden heute keine Windströme mehr geführt, sondern Besucher. Sie betreten den Kanal durch ein zum Eingang umgebautes Bombenloch und stehen in der Röhre, einer hallenden Halle ohne ebenen Boden: Strömungen und Wirbelbildungen der Luft finden im dreidimensionalen Raum statt. Prinzip des Kanals ist, ein umgedrehtes, stillgestelltes Flugzeug zu sein. Geschwindigkeit im Stillstand. Die Besucher zwängen sich also in den Ecken, an denen der Wind im rechten Winkel umgelenkt wird, durch in Serie nebeneinander stehende Steuerruder hindurch. Sie sehen den zerfetzten Stahl und zerspaltene Sperrholzlamellen einiger Ruder. Sie sehen nicht mehr die riesigen Propeller und Gebläsemotoren, die den Windstrom erzeugten.

Doch insgesamt ist der Kanal intakt und sauber gefegt: ein durch allen Weltkriegsschutt integer gebliebener und gemachter Körper aus sieben Zentimeter dickem Beton.

Nachdem die Rote Armee den Kanal 1945 entkernt hatte, alle Ventilatoren und Messanlagen abgebaut und -transportiert hatte, schlug eben darum die Stunde der „Unentwegten“. Während die Aerodynamiker aus Adlershof, die im Westen gelandet waren, ihre Forschungen wieder belebten, dachten die im Osten gebliebenen materialistischer: Wiederinbetriebnahme des Großen Windkanals. Ein „Wissenschaftlich-technisches Büro für Kraftmotorenbau“ gutachtet seit 1953 bei Ministerrat und Akademie der Wissenschaften der DDR für Windkanal-Untersuchungen, vor allem an Kraftfahrzeugen, sprich: den durch die Sachsenkurve fliegenden Trabanten des realen Sozialismus.

Doch im September 1960 wird das Herzstück der Anlage, die „Messhalle“, zu beiden Seiten zugemauert und „die Beton-Luftführung des Kanals für Lagerzwecke freigegeben“. Derzeit lagern dort vor allem Mythen, und die alten Strömungstechniker aus Adlershof fanden sich in einer „Gesellschaft zur Bewahrung von Stätten deutscher Luftfahrtgeschichte e.V.“ zusammen. Sie erwirkte die Sanierung des Windkanals und seine Eintragung als „technisches Denkmal“.

Doch die Ambitionen gehen weiter. Der Windkanal soll Mittelpunkt von Adlershofer Zukunft werden, die sich zeitgeistverweht in Parks ausbreitet. Der Große Windkanal als Zentrum eines „aerodynamischen Parks“ im dynamischen Wissenschaftsstandort Adlershof.

Konkurrenz aus Berlin

Der erste Windkanal in Deutschland steht als kleiner, lärmender Klinkerbau am Stadtrand von Göttingen, 1905 entworfen, erbaut und geleitet vom Vater der deutschen Aerodynamik, Ludwig Prandtl. Hier entsteht die Anordnung von geschlossenem Umlauf, Umlenkung, Modell, Modellwaage und Messraum, der auch noch der Große Windkanal von Adlershof folgt. In Göttingen werden Modelle von Luftschiffen, Tragflächen und Propellern gemessen.

1912 bekommt die Göttinger Versuchsanstalt Konkurrenz aus Berlin. Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, Adlershof (DVL), ist Teil der mächtigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und betreibt Staatsforschung: neben Grundlagenfragen vor allem technische Prüfung und Genehmigung von Flugzeugteilen. Der erste Windkanal der DVL von 1913 hat einen Messquerschnitt von 80 Zentimetern und operiert mit Windgeschwindigkeiten von 50 Metern pro Sekunde.

Um nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Verbot aller motorisierten Fliegerei wegzutauchen, nimmt die deutsche Luftfahrt den nahe liegenden Ausweg: Fliegen ohne Motor, Segelflug also, auf allen Hügeln, Tälern und Winden, in Dutzenden von Gleitflugwettbewerben zwischen zahllosen, aus dem Boden schießenden Segelflugvereinen.

„The Glider Crazy“: Das sind die Golden Twenties der deutschen Aerodynamik. Denn wo nur Luft ist, da wird aus Fliegen reine Aerodynamik.

Doch auch der schönste Segelflug ist experimentell nur begrenzt auswertbar, und darum sucht die Aerodynamik nach neuen Quellen, Göttingen strebt nach größeren Kanälen, Adlershof nach noch größeren. Weltwirtschaftskrise und Versailles lassen die Ressourcenschrumpfen, und darum dümpelt, im Gegensatz zu Theorie und Segelflug, das aerodynamische Experiment in der deutschen Luftfahrt um 1930 so vor sich hin.

Das ändert sich ab Januar 1933 schlagartig. „Die Bewegung“ hat die Macht ergriffen. Mit institutionsgeschichtlicher Schallgeschwindigkeit mobilisiert sie sämtliche traditionellen Einrichtungen der Luftfahrtforschung. 2,5 Millionen Reichsmark für einen neuen Kanal in Göttingen – so viel, wie der Anstalt während der gesamten zehn Jahre zuvor zur Verfügung stand. Der DVL Adlershof werden schon im Oktober 1933 5,4 Millionen, im Dezember 1934 15 Millionen, bis Kriegsbeginn insgesamt über 28 Millionen bewilligt, bei einer Erhöhung der Mitarbeiterzahl von 450 auf 2.000.

„Die Dynamik der Luftrüstung überrollte selbst die Planungsfachleute des Reichluftfahrministeriums“, wie Helmuth Trischler es in seiner Studie „Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900 bis 1970“ schreibt. 1934 wird zunächst der Große Windkanal eingeweiht, für Winde mit 65 Meter pro Sekunde und Modelle von viereinhalb Metern Spannweite. Die Presse assistiert mit einem „Stakkato ästhetizistischer Superlative: ‚Schönheit der Technik, stählerne Romantik – Metropolis‘“. Doch eins können alle gigantischen Förderungssummen nicht verdecken: Der institutionelle, geografische und physikalisch-technische Ort eines Windkanals mit 8 Meter Durchmesser und 65 m/s (oder 0,2 Mach), betrieben von einer traditionellen Großforschungsinstitution am Rande der Reichshauptstadt, ist seit spätestens 1935 ein Auslaufmodell.

Nationalsozialistische Wissensmobilisierung folgt nun drei Gesetzen, in denen die DVL Adlershof samt Großem Windkanal strukturell verschwindet: Erstens Dezentralisierung. Die alten Zentren sind nicht mehr expansionsfähig, sie sind in den Weichbildern von Städten angesiedelt und darum aus eben der Luft, die sie erforschen, angreifbar. Zweitens: Anlehnung der Forschung an existierende oder zu entwickelnde regionale Luftfahrtindustrien, das heißt: regionale Industriepolitik. Drittens: Neugründung von Institutionen, die nicht auf staatliche Lenkung, sondern die Autonomie einer Scientific Community bauen.

Im März 1935 wird Reichsluftfahrtminister Hermann Göring die Existenz einer deutschen Luftwaffe verkünden. Boden und folgenreichster Output der neuen Luftmacht ist ein seit 1935 explosionsartig expandierendes Forschungsimperium für Luftfahrt, das alle anderen Forschungsinstitutionen des Reichs überholen oder schlucken wird.

Seine institutionelle Krönung ist wissenspolitisch spektakulär. Am 6. April 1936 hält der talentierte Organisator und Leiter der Forschungsabteilung im Reichsluftfahrtministerium, der Philosophensohn Adolf Baeumker, einen Vortrag bei seinem Chef, um ihm einen unkonventionellen Vorschlag zu unterbreiten: die Gründung einer „Akademie für Luftfahrtforschung“ in der Tradition der ehrwürdigsten Akademien Europas. Um Göring zu überzeugen, spricht Baeumker weniger über Luftfahrt als über Geschichte.

Er referiert die weichenstellende Rolle der Fürsten bei Gründung der alten Akademien und zeigt „fotokopierte Urkunden und Erlasse über die Ausstattung der Akademien durch die Landesherrn“. Göring ist begeistert. Er möchte sofort in die Fußstapfen des Großen Kurfürsten treten, „Domänen und sonstigen Besitz“ zur Verfügung stellen, und bereits im Juli ist der Welt erste Akademie für ausschließlich eine technische Wissenschaft gegründet.

An den Infrastrukturen dieses Wissens wird schon weit vor Görings Inthronisation zum Akademiepräsidenten gearbeitet. Ein völlig neues Zentrum für Luftfahrforschung soll entstehen, neben dem sich Göttingen und Adlershof sehr bescheiden ausnehmen. Günstige Verkehrsverbindungen, Mittellage, eine nahe Technische Hochschule und Bedarf an industrieller Entwicklung der Region führen, nach dem Grundsatz der Dezentralisierung, auf ein vollständig im Wald verborgenes Gelände bei Völkenrode, nordwestlich von Braunschweig. Dort entsteht das größte Großforschungsprojekt, das das Dritte Reich je verwirklichte. Die technischen Zielsetzungen im Einzelnen sind ganz der nach Völkenrode zu verpflanzenden Scientific Community überlassen. Und die greift in andere Bereiche als der 0,2-Mach-Wind von Adlershof: Überschall und Überschallkanäle, Strahlantrieb und Prüfstände für 100 Tonnen Horizontalschub, verborgen in der Lüneburger Heide, Entwicklung von Pfeilflügel-Flugzeugen.

Peenemünde geht vor

Die DFL von Völkenrode steht in direkter Konkurrenz zu einer Luftfahrtforschungseinrichtung, die nicht in Görings Forschungsimperium fällt: der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Die gesamte Raketenforschung fällt, nach Führerbefehl, in die ausschließliche Zuständigkeit des Heeres, nicht der Luftwaffe. Die Prinzipien Dezentralisierung und Autonomie einer Scientific Community tragen den Wissenschafts-Campus auf Usedom, bevor in Völkenrode die erste Kiefer gefällt ist. Aerodynamische Daten für die Raketenforschung aber liegen von Anfang an in Überschallbereichen, jenseits von Mach 1.

Der Windkanal von Peenemünde unterscheidet sich darum prinzipiell von Adlershofer Betonröhren: keine umlaufende Rennbahn für Winde, sondern Ansaugen von Außenluft in eine große Vakuumkugel; Modelle nicht im natürlichen Maßstab, sondern im Zentimeterbereich; keine Messhalle, sondern die allerheiligste Messkammer. Der „offene Freistrahlkanal für unterbrochenen Betrieb“ arbeitet mit kurzen Messzeiten, Geschwindigkeiten von 3 bis 4 Mach, das sind Winde mit 1.000 Meter pro Sekunde, und einem Messquerschnitt von 40 mal 40 Zentimeter.

Während in Peenemünde und Nordhausen die ersten Raketen produziert werden, hört Görings Luftfahrtforschungsimperium nicht auf zu expandieren, in immer größere Dimensionen. Nach dem Aufbau der der DFL in Völkenrode, der die Ministerialbürokratie in einen „Planungsrausch“ versetzte, ist seit 1940 eine neue, noch größere Anlage geplant, dezentral im Mittelpunkt deutscher Luftfahrtindustrie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegen: in Bayern. Die Luftfahrtforschungsanstalt München, LFM, bei Ottobrunn verschlingt bis Kriegsende fast alle Forschungsgelder des Reichsluftfahrtministeriums. Das auf der grünen Wiese unbegrenzt erweiterbare Gelände von Ottobrunn hat auch eine Außenstelle im Gebirge: im Ötztal. Dort, mit den großen Reserven an Wasserkraft, sollen die Megakanäle der Zukunft entstehen. Bis 1945 ist das Meiste nur Rohbau.

Wo also die Ruinen einer 1.000-jährigen Zukunft für kommende Dänikens nur im Entwurf, aus der Luft und am Rand sichtbar werden, wo sich unter der Permutation von Großbuchstaben – DVL, DFL, LFM – Nachkriegsstrukturen abzeichnen, da werden die Ruinen des Zentrums bewohnbar für Mythen. Denn bevor der Große Windkanal von Adlershof je zur Drehscheibe eines aerodynamischen Parks geworden sein wird, avanciert er zum gesuchten Drehort. Jetzt übrigens für einen neuen Film: Robert Barmkamps Prüfstand VII.