Das entwurzelte Sprechgerät

Aufrüstung für die Gegenwart: Das öffentliche Telefonhäuschen muss sich der mobilen Konkurrenz durch das Handy erwehren. Mit Internetservice und Faxanschluss dient sich der „Telekiosk“ der Zukunft an. Doch in den USA ist man da schon weiter

von SEBASTIAN HANDKE

Modernisierung macht aber auch vor gar nichts halt. Blindwütig zerschlägt sie alte Bindungen und hinterlässt verunsicherte Modernisierungsverlierer, denen es trotz zahlenmäßiger Stärke schwer fällt, sich Gehör zu verschaffen. Ein Beispiel unter vielen: die Telefonzelle. Ausgerechnet der öffentlichen Fernsprechvorrichtung fehlt eine Stimme, die ihr Gehör verschafft.

Denn dem Münz- und Kartentelefon ist eine unheimliche Konkurrenz erwachsen. Die Telefonzelle zum Mitnehmen, das tragbare Funktelefon, hierzulande kurz Handy genannt, gräbt ihm systematisch das Wasser ab. Das Ende der Sicherheit stiftenden Einbettung in Zeit und Raum – nirgends werden die Konsequenzen der Moderne so greifbar wie in diesem Konflikt: Beim Showdown zwischen Handy und Telefonzelle stehen sich zwei Generationen der öffentlichen Fernkommunikation unversöhnlich gegenüber. Während Interaktionszusammenhänge durch das verschraubte Telefon immerhin schon um das gesichtsunabhängige Quatschen supplementiert wurden, verleiht das Funktelefon der mündlichen Kommunikation ganz neue Dimensionen der Ortsungebundenheit. Der Übergang vom prämobilen Zeitalter des Telefonhäuschens zum entwurzelten Sprechgerät ist das Paradigma schlechthin der radikalisierten Moderne.

Die Demontage des öffentlichen Fernsprechers begann schon Anfang der 90er-Jahre und wurde ganz folgerichtig von einem Vertreter der neuen Informationselite besorgt. Der Hacker Tron entfernte nachts unbehelligt eine Telefonzelle von ihrem Standort, um ihre Zutaten zu untersuchen. Er machte die Demütigung perfekt, indem er das arme Ding noch vor Morgengrauen ordnungsgemäß wieder verschraubt hatte. Später wurde er verhaftet, als er eine Zelle mit dem Vorschlaghammer bearbeiten wollte. Tron starb 1998 unter mysteriösen Umständen.

Den beginnenden Abstieg ihres Erfolgsmodells hatte die Deutsche Telekom fast zeitgleich mit zumindest ähnlich bedenklichen Mitteln zu verhindern versucht. Nach der glücklosen „Ruf doch mal an“-Kampagne muss die Verzweiflung grenzenlos gewesen sein, anders ist die Vorher-Nachher-Strategie nicht zu erklären, von der man sich zur farblichen Umgestaltung des Sprechaquariums hinreißen ließ – vom liberalen und weltoffenen Gelb zum schwächelnden Magenta. Die Telefonkarte war ein weiterer Versuch, Anschluss zu halten – es ist eine Ironie der Geschichte, dass deren Technologie heute die Freischaltung des Mobiltelefons besorgt. Und schließlich sollten die Gesetze des Marktes das Problem lösen: durch Installation von privaten Zellen ausgerechnet am Stuttgarter Hauptbahnhof. Auch in diesem Fall blieb der Erfolg aus, denn im Gegensatz zum Statussymbol Handy handelt es sich bei der eher sozialistisch organisierten Telefonzellenkultur keineswegs um einen attraktiven Wachstumsmarkt. Schließlich stehen die Dinger schon überall. Und anstehen muss man auch.

Aber der Kampf ist nicht verloren, die Telekom rüstet sich. In auswegslosen Situationen sucht man sich Bündnispartner, und den fand die Deutsche Telekom in Wiesbaden. Zusammen mit der Concept! AG bringt sie nun den „Telekiosk“ in Anschlag. An diesem „Multimedia-Kommunikationsterminal“ kann man beim achtlosen Vorbeischlendern Halt machen und auf einem hochauflösenden Touchscreen im Internet surfen sowie E-Mails, Faxe und SMS-Nachrichten verschicken – ein dazugehöriger Drucker bringt das Ganze notfalls auf Papier. Auf dem Expo-Gelände stehen schon vierzig solcher Terminals und weisen den Weg durchs Gelände. Bis nächstes Jahr sollen im Bundesgebiet tausend Einheiten in Betrieb gehen.

In den USA hat man dagegen erkannt, dass man sich von solch eher passiven Strategien der Kundengewinnung verabschieden muss: Viel zu gutmütig warten die Zellen alten Zuschnitts darauf, dass jemand zum Telefonieren an sie herantritt. Das Kioskterminal des Telekommunikationskonzerns AT & T geht ein wenig aggressiver vor: mit Wetterupdates, Börsenkursen, Nachrichten und Werbung soll der eilige Passant an das Gerät herangeführt werden. Das Produkt zur Werbung kann dann auch gleich bestellt werden. Und Nolan Bushnell, immerhin Gründer von Atari und Erfinder des ersten Videospiels, wird mit seiner Firma uWink Telefoneinheiten mit Videospielen ausrüsten. Der Wartende im Flughafen wird also zuerst telefonieren, dann spielen und dann surfen. Oder umgekehrt. Denkbar wäre auch ein Gratistelefonat für den High Score. Aber wer möchte schon warten, bis jemand seine Rebhuhnjagd erfolgreich abgeschlossen hat?

Auf dem Gebiet der Zusatzfunktionen scheint sich also ein aggressives Wettrüsten anzubahnen. Das Telefonieren an sich wird dann eher ein Add-On-Feature sein. Mit Multifunktionalität allein wird sich die Telefonzelle aber nicht gegen die Mobilität der Handys behaupten können. Denn mit dem fröhlich erwarteten Funkstandard UMTS werden die Netze der Mobilfunkbetreiber genug Bandbreite haben, um es mit jedem Telekiosk dieser Welt aufnehmen zu können. Dann aber werden Funktelefone nicht mehr Funktelefone heißen, und sie werden so viel Strom verbrauchen, dass eine ganz neue Chance entsteht für die verschraubte Zelle: als Aufladestation für leergelaufene Akkubatterien nämlich.