Streit um Jerusalem verhärtet sich

US-Präsident Clinton verschiebt seine Reise zum G-8-Gipfel in Okinawa, um den Nahostverhandlungen in Camp David noch eine Chance zu geben. Kern des Konflikts ist die künftige Hoheit über 20 Prozent der arabischen Wohnviertel Ostjerusalems

aus Washington PETER TAUTFEST

Die Verhandlungen in Camp David sind in eine entscheidende Phase getreten. US-Präsident Bill Clinton hat seine Reise zum Gipfel nach Okinawa um einen Tag verschoben und Außenministerin Madeleine Albright ihre Reise nach London abgesagt. Derweil drohten erst Yassir Arafat und dann Ehud Barak mit ihrer Abreise. Derartige Drohungen gehören zum Arsenal der Verhandlungsstrategien. Vor 22 Jahren ließ der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat seine Koffer packen und wollte aus Camp David abreisen, weil die Verhandlungen mit dem israelischen Regierungschef Menachim Begin nicht weiterkamen, und 1998 wollte Benjamin Netanyahu die Nahostverhandlungen in Wye River verlassen. Der Sprecher des Weißen Hauses, Joe Lockhart, wies darauf hin, dass, wer aus Camp David abreisen wolle, weit zu laufen habe.

Was der Verhandlungsleiter der israelischen Delegation bei seiner Ankunft in den USA der Washington-Korrespondentin der Zeitung Yedioth Ahronoth anvertraute, scheint sich zu bewahrheiten: Die Verhandlungen über Jerusalem sind der eigentlich kritische Punkt. Die Gespräche in den abgelegenen Catoctin-Bergen Marylands sind offenbar doch nicht so gut abgeschirmt, dass die Delegationen nicht ihre jeweiligen Öffentlichkeiten mit Nachrichten versorgten, die sie auf das Ergebnis vorbereiten sollen. So berichten israelische Zeitungen gestern ausführlich über den Stand der Verhandlungen um die strittigen Punkte: Grenzziehung, Flüchtlinge und den Status von Jerusalem.

Der Washington-Korrespondent der Zeitung Haaretz, Nitzan Horowitz, berichtet aus Thurmond bei Camp David, dass eine Lösung innerhalb von Ehud Baraks „Roten Linien“ gefunden worden sei. Zu diesen für Israel unabdingbaren Positionen gehören israelische Souveränität über ein ungeteiltes Jerusalem, die Annexion mehrerer großer Siedlungen durch Israel und die Rückführung einer begrenzten Zahl palästinensischer Flüchtlinge im Rahmen der Familienzusammenführung. Im Gegenzug soll der größte Teil der Westbank unter palästinensische Autonomie – die Rede ist von 90–95 Prozent des Territoriums.

Die arabischen Stadtteile Jerusalems sollen weitgehende Selbstverwaltung, wenn auch unter israelischer Souveränität, erhalten – so etwa wie der Vatikan in Rom, erläutert Moshe Amirav, ein Jerusalemexperte der Jerusalem Post. Israel werde 100.000 Flüchtlinge, die 1948 bei der Staatsgründung das damalige Palästina verlassen hatten, nach Israel zurückkehren lassen. Andere Besitzansprüche sollten entschädigt werden aus Geldern, die sowohl in den USA als auch international aufgebracht werden müssten – eine Lösung, die Clinton bei der G-8-Konferenz in Okinawa verkaufen müsste.

Die Palästinenser schließlich sollten besondere Hoheitsrechte auf Straßen erhalten, die die beiden Teilgebiete eines palästinensischen Staates verbinden sowie auf den Zufahrten aus der Westbank nach Jerusalem. Arafat aber beharrt weiterhin auf voller Souveränität des Ostteils von Jerusalem als der Hauptstadt eines autonomen palästinensischen Gebildes.

Die Vermutung, dass es bei den Verhandlungen vornehmlich um Jerusalem geht, erhielt zusätzliche Nahrung durch die Bestellung von Reuven Merhav nach Camp David durch den israelischen Regierungschef Ehud Barak. Merhav, ehemals ein Beamter im israelischen Außenministerium und heute Mitglied eines Jerusalemer Think-Tanks, hat ein Papier über Lösungsmöglichkeiten der Jerusalemfrage erarbeitet. Eine mögliche Lösung sieht vor, im Gegenzug für die Annexion israelischer Siedlungen bei Jerusalem arabische Dörfer nach Jerusalem einzugemeinden, um das demografische Gleichgewicht Jerusalems auszubalancieren – Israelis bilden heute die Mehrheit der Bevölkerung Jerusalems.

Nach Angaben der Jerusalem Post sind auch die Probleme um Jerusalem eigentlich weitgehend gelöst. Es geht nur noch um 20 Prozent der arabischen Wohngebiete. Nach dem zur Zeit debattierten Plan kämen 80 Prozent der arabischen Altstadt und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung unter palästinensische Verwaltungshoheit, wenn auch im Rahmen einer begrenzten Souveränität. Israel würde die eigentliche Souveränität und die Verantwortung für die Sicherheit der Stadt behalten. Zu den 80 Prozent gehören auch die heiligen muslimischen und christlichen Stätten, sodass die palästinensische Fahne auf der Al-Aksa-Moschee wehen könnte.