Mexikos Mauerfall

Jahrzehntelang haben die Mexikaner Politik als Schicksal ertragen. Der Machtwechsel könnte ihnen so etwas wie staatsbürgerliche Würde geben

von ANNE HUFFSCHMID

Gegen alle Panikmache und alle Manipulationsversuche haben sich die MexikanerInnen am 2. Juli 2000 von einem Trauma befreit: der scheinbaren Allmacht einer Revolutionär-Institutionellen Regierungspartei (PRI), die mit Revolution ungefähr so viel zu tun hatte wie die ostdeutsche SED mit Sozialismus. Manches erinnert denn auch an den Kollaps der osteuropäischen Pseudosozialismen. Kolumnisten schreiben vom mexikanischen „Mauerfall“ oder der „Samtrevolution“ und würdigen den Noch-Präsidenten Zedillo, der als „guter Verlierer“ den politischen Machtverlust durch persönlichen Imagegewinn kompensieren kann, als eine Art lateinamerikanischen Gorbatschow. Während weite Teile der Gesellschaft feiern, durchlebt die PRI eine skurrile Zwangsmetamorphose von der Staats- zur Oppositionspartei. Dabei fordern altgediente Dinosaurier plötzlich Basisdemokratie, wettern gegen neoliberale Umtriebe und bezichtigen ihren Präsidenten wegen der schnellen Anerkennung der Wahlniederlage gar des „Verrats“.

Doch nicht nur die die geschockte Staatspartei ist ratlos. Auch die linksliberale Wochenzeitschrift Proceso titelte in der ersten Nach-Wahl-Nummer keck: „Und was nun?“ In der Tat ist mit dem Machtverlust der PRI etwas abhanden gekommen, was über Jahrzehnte als Mittel- und Referenzpunkt des politischen Koordinatensystems fungierte – und auch als bequemes, weil berechenbares Feindbild diente. So herrscht bei der Linken nach dem abrupten Demokratieschock eher Kater- denn Aufbruchstimmung. Denn auch die linksoppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hat – ausgerechnet bei den wirklich sauberen Wahlen – weit schlechter abgeschnitten als erwartet. Zwar ist eine gewisse Seelenverwandtschaft von Institutionalisierten und Demokratischen Revolutionären, die sich gegenseitig das Vermächtnis der mexikanischen Revolution streitig machen, nicht zu leugnen. Letztere aber haben sich seit ihrer Gründung vor 12 Jahren immerhin als konsequente Regimegegner profiliert. So bitter es klingt: Was durch die Linke gesät wurde, der Keim des Widerstands gegen den staatstragenden Autoritarismus, wurde nun von der Rechten – in Gestalt des Christdemokraten Vicente Fox – geerntet.

„Die Geschichte, auf die die Linke doch sonst so vertraut“, so notierte ein PRD-naher Kommentator mit sanftem Sarkasmus, „ist wieder einmal ungerecht.“ Es ist paradox: Gerade diejenigen, die den Sturz der Staatspartei jahrelang als Voraussetzung für jede politische und soziale Demokratie beschworen, vermögen diesen Erfolg heute nicht so recht zu feiern. Der PRD-Kandidat Cárdenas bezeichnete den Wahlsieger Vicente Fox allen Ernstes als „Unglück für das Land“. Ein wahrer Wechsel habe gar nicht stattgefunden, PRI und die Fox-Partei der Nationalen Aktion (PAN) seien lediglich zwei Seiten derselben neoliberalen Medaille, die ahnungslosen Fox-Wähler hätten in in Wirklichkeit „eine Stimme für den IWF und die Weltbank“ abgegeben. Statt Selbstkritik die gute alte Wählerbeschimpfung: Die Begeisterung für das von der PAN-Partei propagierte Ya (Es reicht) manifestiere ein „sehr niedriges Politisierungsniveau“, heißt es in einem Aufsatz – übrigens aus der Feder eines Autors, der dem Slogan „Ya basta“ der zapatistischen Rebellen einst einiges abgewinnen konnte. Was in diesen Worten anklingt, ließe sich wohl am ehesten als Arroganz der Ohnmacht umschreiben. Jedem Mitglied, so ließ der PRD-Vorstand zudem verlauten, das „der Versuchung erliege“, bei einer pluralistischen Fox-Regierung mitzumischen, drohe der Parteiausschluss. Wie dieser Igitt-Reflex im Bundesstaat Chiapas umzusetzen ist, wo PRD und PAN bei den Gouverneurswahlen am 20. August denselben Kandidaten unterstützen, bleibt das Geheimnis der verstörten Linkspartei.

Im benachbarten Uruguay, wo eine linke Parteienallianz bei den vergangenen Parlamentswahlen fast 50 Prozent der Stimmen ergatterte, begründete der Exguerillero und frisch gewählte Senator Eleuterio Fernández Huidobro – nicht gerade als Fürsprecher grauer Realpolitik bekannt – diesen Erfolg schlicht damit, dass „die Linke von ihrem Sockel des Hochmuts heruntergestiegen ist, um zu lernen“.

Mit intellektuellem Dünkel gegenüber einem Präsidenten, der via Marketing zur Macht gekommen sei und Mexiko nun „wie einen Coca-Cola-Konzern“ regieren wolle, ist es jedenfalls kaum getan. Zweifellos mutet es befremdlich an, wie der ehemalige Coca-Cola-Manager Vicente Fox die brachliegende „Mexiko-AG“ mit Managementmethoden, Qualitätskontrollen und Talentsuchern voranbringen will. Die Jubelchöre von Börse und US-Investoren stimmen misstrauisch, auch die christdemokratisch inspirierte Programmatik erscheint nicht eben zukunftweisend. Fox selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, den marktliberalen Wirtschaftskurs nicht ändern, sondern lediglich sozial abfedern zu wollen (taz-Interview, 27. 6. 2000). Dass sich die PAN, eine eher hell- denn dunkelhäutige Mittelschichts- und Unternehmerpartei, plötzlich Themen wie sozialer Ungleichheit, öffentlicher Bildung oder indigener Selbstbestimmung widmet, ist, gelinde gesagt, eher unwahrscheinlich.

„Business as usual“ aber heißt, zumindest in Mexiko, nicht notwendig schon „politics as usual“. Und zumindest in der – von Traditionslinken vernachlässigten – Demokratiefrage wären ein paar neue Antworten zu erwarten: politische Transparenz und Korruptionsbekämpfung, effektive Rechtsstaatlichkeit sowie die Entmachtung mafioser Seilschaften. An den materiellen Lebensverhältnissen der 50 Millionen Armen im Land ändert das vermutlich noch nicht viel. Womöglich aber schon mal am Lebensgefühl: An die Stelle von radikalem Misstrauen und Entmündigung könnte so etwas wie staatsbürgerliche Würde treten, aus der Vorstellung von „Politik als Schicksal“ so etwas wie Politikfähigkeit entstehen. Der Agonie des Dinosauriers, so der Schriftsteller Carlos Monsiváis, habe zunächst ein „psychologischer und kultureller Übergang“ zu folgen. Wohin, ist ungewiss. Gerade darin liegt die Chance. Denn wie in jenem deutschen November 1989 werden im mexikanischen Juli 2000 soziale Energien freigesetzt, die noch unberechenbar sind. Ob die mexikanische Linke ihre Lähmung überwindet, bleibt vorerst fraglich. In ihrer Prophezeiung einer konservativen Konterrevolution, die dem Land nun unweigerlich drohe, klingt so etwas wie Sehnsucht nach der versteinerten Betonrevolution an. Solche Nostalgiker aber wären heute die wahren Konservativen – so wie seinerzeit die Angst vor der massenhaften Spießerinvasion ins Kreuzberger Idyll die wahrhaft spießige Attitüde war. Die Mexikaner müssten aber bald aus ihrem Staunen herauskommen.

Hinweise:Bei der Linken herrscht nach dem Demokratieschock KaterstimmungNostalgiker aber wären heute unzweifelhaft die wahren Konservativen