Hören mit Augen

Plattform zeigt Jean-Luc Godards „Histoire(s) du cinéma“ als polyphones Seherlebnis in anschmiegsamen Sesseln

Es ist ein monumentales Werk, allerdings im Fernsehformat. Die „Histoire(s) du cinéma“, die Jean-Luc Godard zwischen 1983 und 1998 realisierte, beschrieb Alexander Horwarth in dieser Zeitung als „den bislang umfangreichsten Versuch, das digital erweiterte Videogerät für die freie Essayform zu nutzen“. Schon 1955 hatte Godards Kollege aus der Nouvelle Vague, Jacques Rivette, die Form des „essai cinématographique“ als „die eigentliche Sprache der modernen Kunst“ bezeichnet.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die knapp sechsstündige Meditation mit Ton und (Lauf-)Bildern über Geschichte und Geschichten des Films 1997 zum Geheimtipp der Dokumenta X wurde. In dem von Dan Graham konzipierten Pavillon „New Design for Showing Video“ konnten die Zuschauer in boxenartigen Abteilen auf bequemen Kissen sitzen und die „Histoire(s)“ angucken. Da die Trennwände zwischen den Räumen aus Glas bestanden, war es für den Betrachter kaum möglich, sich auf nur einen Bildschirm zu konzentrieren. Am Rand des Blickfeldes, da, wo andere Episoden der „Histoire(s)“ als Stummfilmbilder sichtbar waren, lauerte immer wieder die Herausforderung der Gleichzeitigkeit. Um die Betonung des Gleichzeitigen geht es auch in dem von Ulrike Kremeier betriebenen Projektraum „Plattform“. Während die „Histoire(s)“ als Videos laufen, sollen die dazugehörigen mehrschichtigen Musik- und Stimmenspuren über Raumlautsprecher von CDs einspielt werden. Ein kollektives Hörspiel für die Augen also, entsprechend der godardschen Technik der zitativen Überlagerung. Zugleich ist das Zusammenspiel auch eine konstante sinnliche Überforderung – ganz im Sinne seiner innovativen Forschungsarbeit über die polyphone Form des Sehens.

Schon wegen der Form und Dauer der Präsentation ist es nur folgerichtig, wenn die Zuschauer und -hörer dabei auf passenden Sitzgelegenheiten Platz nehmen können. Dafür sorgen die Sessel der „re-form“-Serie, die von der Berliner Designergruppe e27 hergestellt wurden. Die Designer haben sich von einer Technik inspirieren lassen, die zum Modellieren des Körperabdrucks für die Herstellung orthopädischer Sitze entwickelt wurde: Die Sessel werden mit tausenden kleinen Styroporkugeln und Luft gefüllt. Sitzt der Mensch erst mal gemütlich drin, wird die Luft herausgelassen, wobei sich die Kugel körpergerecht zusammenschieben.

Der französische Untertitel der „Histoire(s)“ lautet „Introduction à une véritable histoire du cinéma, la seule, la vraie“. Für Godard selbst ist das der „richtige“ Titel, weil er – ähnlich wie Bücher, die eine „Einführung in ...“ ankündigen – zur Entdeckung einlädt. Schade nur, dass die Plattform am Wochenende geschlossen bleibt. Platz für „Weekend“-Staus gibt es also nicht und ansonsten sowieso nur für einige Sessel. In der Lounge der Gleichzeitigkeit soll die Ruhe der theologischen Forscherstube herrschen und der Geist über gut gebetteten Hintern schweben.YVES ROSSET

Plattform, Chausseestr. 110, Mitte. Mi. bis Fr. von 14 bis 19 Uhr. Information unter Tel.: 280 46 973