Türkei stoppt Atomprogramm

Das AKW im erdbebengefährdeten Akkuyu wird nicht gebaut – weil das Geld fehlt

ISTANBUL taz ■ Die türkische Regierung hat gestern das Aus für ihr Atomprogramm verkündet. Nach einer Sitzung des Ministerrates sagte Ministerpräsident Bülent Ecevit, die Ausschreibung für den Bau eines Atomkraftwerkes in Akkuyu an der Mittelmeerküste werde zurückgezogen. Die Türkei habe sich entschieden, zunächst auf den Einsatz von Atomenergie zu verzichten.

Da derzeit in verschiedenen OECD-Staaten auf die Nutzung der Atomkraft verzichtet werde, so die Begründung, wolle man die weitere Entwicklung abwarten. Später könne eine andere Regierung diese Entscheidung vielleicht revidieren.

Als aussichtsreichstes Unternehmen im jahrelangen Poker um den Bau von Akkuyu galt bislang der US-Konzern Westinghouse. Auch das französisch-deutsche Duo Framatome-Siemens und der kanadische Konzern AECL hatten sich um das Projekt beworben. Nun haben alle drei Atomkonzerne einen potentiellen Markt verloren.

Der Stopp für das Atomprogramm ist ein Erfolg für verschiedene zivile Gruppen, die immer wieder gegen Akkuyu protestiert hatten, vor allem weil der geplante Standort nur 20 Kilometer von einem aktiven seismischen Graben entfernt ist.

Die gestrige Entscheidung hatte einen langjährigen Vorlauf, bei dem der Zuschlag mehrmals verschoben worden war. Dabei hatte sich abgezeichnet, dass die Türkei nicht in der Lage sein wird, ein eigenes Atomprogramm zu finanzieren. In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds will das Land seine Inflationsrate in diesem Jahr von 65 auf 25 Prozent drücken. Neue Schulden für den Bau eines Nuklearmeilers hätten die Umsetzung dieses vorrangige politische Zieles unmöglich gemacht.

Die Türkei wird nun statt Atomenergie verstärkt Erdgas zur Stromgewinnung einsetzen. Bislang bezieht das Land sein Erdgas hauptsächlich aus Russland. Weil die Pipeline über Südrussland und durch Georgien allerdings häufig defekt ist, haben Russland und die Türkei vor wenigen Monaten einen Vertrag über den Bau einer neuen Gaspipeline durch das Schwarze Meer unterschrieben. Auch mit Aserbaidschan und Turkmenistan wird über Gaslieferungen verhandelt. Im Gespräch ist, parallel zu der geplanten Ölpipeline von Baku über Tiflis zum Mittelmeerhafen Ceyhan eine Gaspipeline zu bauen, in die auch turkmenisches Gas gepumpt werden soll. JÜRGEN GOTTSCHLICH