TÄGLICHEN KAMPF GEGEN RECHTSRADIKALISMUS MEHR WÜRDIGEN
: Lob für Bürgermut

Gegenüber Fremdenhass und rechtsradikaler Gewalt in den neuen Ländern sind seitens der „betroffenen“ Politiker zwei Argumentationsschienen unterscheidbar. Die eine, herrschende, stellt auf die negativen Wirkungen aufs Image ab – oder auf die abnehmende Bereitschaft von Investoren, ihr Geld in Zentren des Rechtsradikalismus anzulegen. Die zweite, minderheitliche, argumentiert, dass es im Grundgesetz nicht „die Würde des Deutschen ist unantastbar“ heißt, sondern vom „Menschen“ die Rede ist. Es ehrt Bundestagspräsident Thierse, dass er jetzt in einem Zeit-Interview zum Rechtsradikalismus im Osten sich ohne Wenn und Aber auf die menschenrechtliche Position gestellt und utilitaristische Erwägungen unterlassen hat. Darüber hinaus hat er jene Haltungen im Osten gebrandmarkt, die zwischen Verharmlosung und geheimem Einverständnis mit den Neonazis oszillieren.

Für westliche Politiker und Experten ist nichts leichter, als im Osten mangelnde Zivilität angesichts der braunen Pest zu beklagen (und den Rechtsradikalismus vor der eigenen Tür totzuschweigen). Für einen Ossi-Politiker gehört jedoch Courage dazu, die Verhältnisse im eigenen Herkunftsbereich so schonungslos darzustellen wie Wolfgang Thierse. Der Mann weiß offensichtlich, wovon er spricht. Er hat den Rat von Experten-Aktivisten wie Anetta Kahane und Bernd Wagner eingeholt, vor allem aber hat er sich „vor Ort“ umgesehen. Er hält Kontakt, er unterstützt die Bürgerinitiativen, die – oftmals auf sich allein gestellt – im Kampf gegen die neuen Herrenmenschen nicht nachlassen. Und er weiß: Auch den Tapfersten droht Mutlosigkeit – sie brauchen Zuversicht.

Diese Zuversicht nährt sich vor allem aus dem Gefühl, nicht allein zu sein, nicht eingekreist zu sein von einer gleichgültigen bis feindlichen Bevölkerungsmehrheit. Daher ist die Hilfe des Potsdamer Tramfahrers und der Fahrgäste für zwei bedrohte Afrikaner eine Aufmunterung für alle, die sich mit dem Vormarsch des Rechtsradikalismus und rechtsradikaler Gewalt nicht abfinden wollen.

Völlig zu Recht hat Thierse auf den konjunkturellen Charakter der Medienberichterstattung zum Rechtsradikalismus hingewiesen. Damit meinte er auch die Sucht nach spektakulären, möglichst blutigen Untaten. Auf die Berichterstattung folgt dann aber, siehe Guben, das große Schweigen. So erfreulich, so notwendig das öffentliche Lob des Potsdamer Bürgermuts ist – besser noch wäre es, dem tagtäglichen, oft frustrierenden, oft von Niederlagen begleiteten Kampf der Demokraten gegen den Rechtsradikalismus ständige Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn er sich in etwas größerer Entfernung von der Metropole abspielt.

CHRISTIAN SEMLER