Und es hat Rawums gemacht

Goldene Zeiten für Literatur (XII): Über einen Mentalitätswandel und diverse Kampfzonen

■ Abfall für alle: Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von MARTIN HIELSCHER

Nein, nein, nein, so geht es nicht: Da haben wir endlich wieder eine junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Autoren, die unter 30 sind und nicht bloß diese promovierte, habilitierte Germanistenprosa schreiben. Da muss man nicht mehr, wie noch vor fünf (!) Jahren, in aufwendigen, beispielsweise von Kiepenheuer & Witsch und dem Hanser Verlag veranstalteten Buchhändlerseminaren erklären, warum die Buchhändlerinnen doch mal beim Verlagsvertreter das eine oder andere Exemplar eines deutschsprachigen Debüts bestellen und womöglich auch lesen sollen.

Da ist deutsche Gegenwartsliteratur plötzlich mit Karen Duve und Elke Naters, mit Thomas Brussig und Ingo Schulze, mit Christian Kracht und Kathrin Schmidt, mit Marcel Beyer, Julia Franck und Michael Kumpfmüller – um nur einige zu nennen – wieder ein Thema für Leser, Buchhändler und die Medien.

Da wächst der Literatur wieder Stoff zu, da erwacht so etwas wie Erzählfreude, da gelingt es einer bestimmten Fraktion von Autoren, Popmusik und Mode, Medien und Warenwelt, den Jargon einer versorgten, aber haltlosen Welt, die Ambivalenz der Oberfläche als Schein und Glück abzutasten und neu nach dem Wesen von Moralität zu fragen.

Und da soll nun die alte Einschüchterungsrhetorik, die oberlehrerhafte und vor Ressentiment dampfende Einteilung in wahre, ernste, regelhafte, echte, bis ins letzte Semikolon durchgearbeitete Literatur gegen angeblich hingerotzte, stillose, oberflächliche, modische und vergängliche Verständigungstexte wieder aufgebaut werden? Die schon modrige Vermeidungslitanei einer verspäteten Moderne abgesungen werden? Da soll die ganze verhängnisvolle Ästhetik einer verbiesterten, menschenfeindlichen, gesellschaftsfeindlichen, zur Ironie, zum Spiel, zur Lust, zur Maskerade, zur Erotik und zu einer antihierarchischen, plebejischen Daseinsfreude unfähigen Weltanschauung, die die deutsche Mentalität seit mehr als 200 Jahren quält, erneut abgespult werden? (Pause, Luft!)

Nein, nein, nein, wir sollten uns freuen. An neuen, jungen Autoren, weil sie – wenn das überhaupt noch zeitgemäß sein sollte – an sich die Chance zu einem Oeuvre, einem Schriftstellerdasein haben und die Leser, Kritiker und Literaturhistoriker die Chance, einen solchen Weg zu begleiten und kritisch zu würdigen. Und die Geschichte, in der wir leben und die wir erleiden, die Chance, die Historiker der anderen, literarischen Geschichtsschreibung zu finden. Was offenbar derzeit stattfindet, ist weniger ein Generationswechsel als ein Mentalitätswandel. Man sollte sich über junge Autoren freuen, weil sie so etwas wie Zukunft verkörpern, eine neue Lebendigkeit, andere Stoffe, andere Themen. Weil sie die Geschichte der Gegenwart schreiben, eine Geschichte neuer Empfindlichkeiten. Es wäre nun Unsinn, diese Autoren gegen ältere, bekannte, durchgesetzte, kanonisierte Autoren auszuspielen oder die Debütanten gegen die etwas älteren Autoren, die noch auf dem Weg zu einem Oeuvre, dem Durchbruch, der Kanonisierung sind. Ist eine so bedeutende Autorin wie Anne Duden widerlegt, weil es Judith Hermann gibt? Muss man Matthias Politycki gegen Christian Kracht ausspielen? Sind Thomas Meineckes Bücher ein Argument gegen Benjamin von Stuckrad-Barre (Meinecke sagt: nein)? Richtig ist, dass man über jeden einzelnen Text für sich streiten muss, über seine immanenten Kriterien des Gelungenseins, richtig ist aber auch, dass die Kampfzone ganz woanders liegt: in jenem steinalten Ressentiment gegen ein weltoffenes, in seiner Machart dem Leser zugewandtes, von irgendeinem Stoff beseeltes Erzählen, das in der deutschen Mentalitätsgeschichte immer schon Schwierigkeiten hatte, gegen einen Code zu bestehen, der seit jeher einer asketischen, theorielastigen, stoffarmen und weltfernen Ästhetik das Gütesiegel 1a aufpappte. Womit nicht gesagt sein soll, dass modernes, zeitgemäßes Erzählen naiv und theoriearm wäre. Aber eine Literatur scheint neu zum Leben zu erwachen, die an sich selbst Vergnügen hat und nicht, wie die heilige Inquisition, dem Leser „die Instrumente zeigen“ muss, als sei Lesen nichts als Strafarbeit und die Literatur eine ewige, freudlose, pädagogische Provinz. In dieser Kampfzone kann man eine Linie von dem nach wie vor immer noch viel zu wenig bekannten und gelesenen Ernst Augustin über Uwe Timm und Jens Sparschuh bis zu Christian Kracht ziehen, um das Werk dieser Autoren von der sakral- elitär-pädagogisch-katastrophischen Tradition abzugrenzen, die unglücklicherweise immer noch in vielen Köpfen west. Und von Thomas Bernhard lässt sich über Lilian Faschinger und Alois Hotschnig zu Katja Lange-Müller und Andreas Maier, der in diesem Herbst debütiert, ebenfalls eine Linie ziehen. Zu Werken, in denen Sprachartistik und Erzählen, Monomanie und Komik, Geschichte und Verzweiflung eine Verbindung eingehen, die jene artistisch-anämische, sinnlich depravierte Hospitalismus-Prosa weit hinter sich lässt, die nach wie vor rituell gefeiert wird.

Was ist denn nun eigentlich geschehen? In die Geschichte selbst, nicht nur die deutsche, ist mit dem Ende der großen Blöcke Bewegung gekommen. Die Nachkriegsgeschichte ist abgeschlossen; zugleich ist mit dem Ende der großen Ideologien ein neues Bedürfnis nach Sinnschöpfung verstärkt worden, nach Eigensinn und Lebenskunst, ein neues Fragen nach Logik von Lebensläufen und Vergesellschaftung entstanden und nötig geworden. Und all dies drängt von sich aus zur Literatur, zum Erzählen, wie in Michael Kumpfmüllers Roman „Hampels Fluchten“. Wir sind wieder, sehr gut versorgt im Verhältnis zum weitaus größten Teil der übrigen Welt, behütet und langlebig, in eine existenzielle Urszene zurückgeworfen, in der wir uns im Grunde neu definieren müssen, und das lässt wohl auch die Erinnerung wach werden an ein Urmotiv der Literatur, die Todeserfahrung und die der Kürze des Lebens.

Während die Zeit rast und der je gelebte Augenblick dunkel und rätselhaft unabgeschlossen bleibt, muss man sich zugleich selbst entwerfen, sein Leben in eine Bahn einfädeln, von der man wieder abweichen kann, um umzukehren oder einen anderen Weg einzuschlagen. Aber es gibt ein natürliches Ende aller Optionen, und die Auswahl vorgestanzter, angstentlastender, die Wahl erleichternder Lebensentwürfe hat drastisch abgenommen, weil die Verbindlichkeit traditioneller, wertegestützter Lebensformen ebenfalls abgenommen hat. Sie müssen quasi frei schwebend neu erfunden werden – das ist immer eine hohe Zeit für die Literatur (und die Philosophie).

Die Literatur ist das Reservoir der Wünsche, und aus den Wünschen speisen sich die kollektiven Träume, die, von der Kürze des Lebens und den Zwängen der Vergesellschaftung bewacht, das Leben beherrschen. Überhaupt erst einmal zu diesen Wünschen Kontakt aufzunehmen oder in den Simulationen der Medienwelt und den Verkrustungen einer angstbesetzten Versorgungswelt ihre Gestalt zu erkennen, erfordert Mut, Gelassenheit, Wachheit und ein gewisses Maß an idiosynkratischer Empfindlichkeit – oder schwarzen Humor wie in Matthias Altenburgs „Landschaft mit Wölfen“, in den Büchern Sibylle Bergs oder in Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“. Solchen Mut etwa besitzt Maxim Biller mit seinem großen Roman „Die Tochter“ ebenso wie Julia Franck mit ihren Exkursionen in die abgebrühte Melancholie der erotischen Spannung. Oder Rainald Goetz mit seinem ungeheuer ressentimentfreien und avancierten Blick auf die Räusche, Wünsche und Inszenierungen der Jetztzeit in „Rave“ und „Abfall für alle“.

Wenn deutschsprachige Gegenwartsliteratur von Roland Koch bis Maike Wetzel, von den „pool“-Autoren um Elke Naters und Sven Lager bis zu Terezia Mora, von Robby Dannenberg und Anke Stelling bis Matthias Politycki wieder ein Thema ist, so hat dies auch etwas zu tun mit der so genannten Literaturdebatte der letzten zehn Jahre und dabei auch mit der Rolle der Lektoren. Gern wird von Marketingstrategien der Verlage gesprochen, von der „Vertriebsästhetik“ einzelner Lektoren. Es werden Verschwörungstheorien insinuiert, als könnte man eine Literatur mit mehr Chancen, gelesen und geliebt zu werden, einfach klonen, und es wird überhaupt gern auf den so genannten Markt eingedroschen, als wollten nicht alle Autoren ihre Bücher auch verkauft und gelesen wissen.

Aber es waren eben eine Hand voll Lektoren, die in Zeiten, als es gar nicht populär war, sich für deutsche Literatur zu engagieren und für eine bestimmte Strömung deutscher Literatur zu streiten, die in diesen Zeiten geholfen haben, die Wahrnehmung für solche Texte zu schärfen und ein Klima zu schaffen, in dem eine junge, erzählerische Literatur Geltung bekam und Verlage bereitwilliger das Risiko eingingen, sie auch zu verlegen.

Jetzt, was auch o. k. ist, wollen es plötzlich alle. Also: ein Toast auf Uwe Wittstock und die anderen, speziell die, die nicht mehr in diesem Job arbeiten. Der Mohr, der müde, abgerackerte, schlecht bezahlte und drangsalierte Mohr hat seine Schuldigkeit getan, durchaus gern getan. Der Mohr kann endlich, endlich gehen.