In der Chaussee der Enthusiasten

Letztes Refugium des Ex-DDR-Restundergrounds oder Kneipen-Monokultur für zugewanderte Studenten und zukünftige Besserverdiener? Eine abendliche Spurensuche im boomenden gastronomischen Bermudadreieck Friedrichshains

von FALKO HENNIG

Folgt man der Gabriel-Max-Straße am Boxhagener Platz vorbei in Richtung Wühlischstraße, dann fällt dort ein Tante-Emma-Geschäft ins Auge, dass den Namen „Volcksladen“ trägt. Benannt ist der Laden nach seinem Betreiber Oliver Volck, der vor zwei Jahren hergezogen ist und hier Überlebensmittel verkauft. Von seiner Kundschaft schließt er darauf, dass Künstler verschiedener Couleur nach Friedrichshain ziehen, denen Prenzlauer Berg zu etabliert geworden ist.

In einem halben Jahr, schätzt Volck daher, würden hier die ersten Galerien eröffnen. Die meisten Anwohner kämen inzwischen aus Süddeutschland, und auch die ersten Bonner seien schon da. Durch Luxussanierungen werde die ursprüngliche Bevölkerung schon lange vertrieben. In seinem Haus hätten früher vier Arbeiterfamilien gewohnt, die nach Marzahn verzogen seien; jetzt wohnten nur noch WGs dort.

Die Simon-Dach-Straße biete alles, was er sich wünschen könne, sagt Volck. Im Sommer sei die Straße geradezu mediterran. Die Blechbilderbar Comux sei die erste Kneipe, die es dort gegeben habe. Die Astrobar habe immer auf – selbst wenn er morgens um fünf nach Hause komme, könne er dort noch hin. Gefragt nach der Knorre, einer Kleinkunstbühne in der Knorrpromenade, antwortet Volck: „Da bin ich noch nie drin gewesen. Das ist was für Leute ab 35, ich bin 33. Aber in zwei Jahren bin ich auch da.“

Nicht nur in der Simon-Dach-Straße, auch in der Wühlischstraße findet man Kneipe neben Kneipe. Aus allen Häusern laden sie leuchtend ein, und nur der kleine, unbebaute Platz lässt eine gastronomiefreie Zone. Am unscheinbarsten von diesen Lokalen wirkt „Die Tagung“, ein Refugium der Ostalgie: Dort fehlen weder Lenin-Bilder noch Honecker-Porträts und natürlich auch nicht jene Wimpel, Fahnen, Auszeichnungen und Urkunden, in deren Produktion die DDR das ersehnte Weltniveau erreicht hatte. Im Keller wird ein ganz eigener Umtauschkurz praktiziert: für 5 Mark West bekommt man einen Alu-Pfennig Ost und den Eintritt zur „Chaussee der Enthusiasten“, der neuesten Blüte im Sumpf der Berliner Literatur-Varietés: Untergrundliteraten im wahrsten Wortsinn lesen in dem dicht gefüllten Kellerraum aus ihren selbst geschriebenen Geschichten vor. Ihre große Stärke liegt in der Selbstironie. Lustig ist beispielsweise ein fiktives Interview von Gunnah Klemm, in dem der Reporter einen Förster zum Waschbär befragt, der Weidmann aber immer auf den Dachs zu sprechen kommt. Schlusspointe des kleinen Stückes: „Jaja, der Waschbär ist ein rechter Frechdachs.“

Der Chef der „Tagung“ heißt Matthias Bartel; aus Schwerin kommend, eröffnete er 1992 als einer der ersten Nachwendegastronomen das Lokal. Ist der ehemalige DDR-Underground nun in Friedrichshain zu Hause? Die Frage bejaht Bartel glatt: „Weil die Mieten noch bezahlbar sind, ziehen viele Studenten nach Friedrichshain. Und so ist auch das Kneipenumfeld.“ In seinen Anfangsjahren hatte er vor allem Stammpublikum. Nun, dank vieler Zeitungsberichte, komme viel Laufkundschaft. Allerdings fürchtet er auch ein gewisses Kneipen-Einerlei, vor allem über das neu eröffnete „Dezibel“ rümpft er die Nase.

Im Juli eröffnete die Kneipe an der Ecke Scharnweber- und Müggelstraße, doch was an ihr so schlimm sein soll, leuchtet beim Lokaltermin nicht recht ein. Die Räume sind voller junger Leute, Flaschenbier gibt es ab 3,50 Mark für den halben Liter Berliner Pilsener, Schnäpse für 3 Mark. Normalerweise sei nicht so viel Publikum hier, erfahre ich, heute spiele aber eine Liveband. Der ältere Biertrinker an der Theke ist Neufriedrichshainer, seit ihm die sanierte Wohnung an der Chausseestraße zu teuer wurde. Er hat kein Heimweh nach Mitte, Freunde vermisst er keine und: „Kneipen gibt es überall.“

Zurück in der Wühlischstraße, fällt dem nächtlichen Passanten noch ein erleuchtetes Café mit dem schönen Namen LBI auf. Dort sitzt Jürgen Dinchir im hinteren Büro, Friedrichshainer schon seit fast einem Jahrzehnt, und erklärt die Bedeutung der Lettern: „Das ist die Landes-Betroffenen-Initiative wohnungsloser Menschen e. V., die gibt es seit September, den Laden seit November.“ Die Räume hier sind gleichzeitig Tagesstätte und Nachtcafé für obdachlose Menschen. Dinchir sagt, durch die Luxussanierungen gebe es einen starken Zuzug von Wohlhabenden. Die armen Friedrichshainer dagegen würden in andere Bezirke umgesetzt und könnten später wegen der gehobenen Mieten nicht mehr zurück.

Die Knorrpromenade ist eine in mehrerer Hinsicht bemerkenswerte Straße. Zum einen ist sie in den Falk-Stadtplänen schwer zu orten, ob ihrer Kürze ist sie dort nur mit einer Nummer bezeichnet. Schon etliche Menschen sind deswegen nachts im Gewerbegebiet am Ostkreuz herumgeirrt auf der Suche nach der Kleinkunstbühne Knorre. Wie in einem anderen Stadtbezirk fühlt man sich nach dem Durchschreiten der Torbögen, die auch das Signet der Knorre bilden. Eben noch in der Umgebung proletarischer Mietskasernen, fallen hier nun Vorgärten, hochherrschaftliche und großzügig geschnittene Häuser und nicht zuletzt der gastronomische Komplex der Knorre selbst ins Blickfeld. Das lässt die sozialen Schranken des Beginns des gerade vergangenen Jahrhunderts spüren: Die noble Straße wurde abends zugeschlossen. Die Straße selbst überstand den Zweiten Weltkrieg recht unbeschadet, lediglich der zweite Torbogen wurde zerstört.

Die Knorre, das sind Restaurant, Galerie, Ballsaal für Konzerte und Kleinkunst; ein Antiquariat gibt es seit September 1997, erzählt der Betreiber Frank Bauer. Er meint, der Underground wäre aus Friedrichshain schon seit November 1990 verschwunden, als die Mainzer Straße geräumt wurde. Doch während Prenzlauer Berg inzwischen totsaniert worden sei, wären hier die Mieten noch bezahlbar. Das Knorre-Publikum jedenfalls zähle nicht zur neuen Oberschicht.

1912 war der Ballsaal ursprünglich eingerichtet worden. Bei der Wiedereröffnung 1997 kamen viele alte Leute, darunter eine Frau, die hier ihren Mann kennen gelernt, und eine andere, die in den Räumen einst geheiratet hat. Eine andere alte Dame erinnerte sich: „1915 war ich im Saal, als der Kaiser hier getanzt hat.“ Ob sich der Kaiser in der Knorre heute noch wohl fühlen würde, darf bezweifelt werden. Das schon klassische „Mittwochsfazit“ hat hier vorübergehend Quartier bezogen, bis das Schlot in Mitte neu eröffnet. Der Vortragskünstler Horst Evers berichtet gerade von einer eigenartigen Veranstaltung in Westdeutschland: „Freibier und kein einziger ist betrunken – das ist Reichtum. Wenn auch ziemlich dekadent.“ Diese Art von Dekadenz ist nichts für ihn, doch bleibt er mit seinen Versprechern noch im Toleranzbereich. Später kommen zwei Damen von einer Literaturgruppe „Weibergespinste“ auf die Bühne und tragen Selbstgedichtetes vor. Entfernt an den DDR-Underground erinnern die Schuhe und die obere Zahnreihe von Bov Bjerg, eines anderen Mittwochsfazitlers. Doch der ist gebürtiger Schwabe und meint, dass die Stundenten wegen der günstigen Mieten nach Friedrichshain zögen. Mit Ost-West habe das überhaupt nichts zu tun. „Der ehemalige DDR-Underground? Der sitzt doch entweder im Bundestag oder auf dem Sozialamt.“