Die Oder: ein Fluss wie eine Mauer

Ein Flüchtlingsberater aus Mexiko untersucht die deutsche Ostgrenze und zieht Parallelen zur Abschottung der USA

Scheinbar gemächlich fließt die Oder unter der Brücke dahin, die das brandenburgische Frankfurt (Oder) und das polnische Slubice miteinander verbindet. Die Oder ist hier zwischen 50 und 200 Meter breit und 1,80 bis 6,20 Meter tief. Das hängt ganz vom Wasserstand ab. Wer hier Deutschland und damit die Europäische Union (EU) ohne gültige Papiere betreten will, der kann die Brücke vergessen. Wer illegal über die Ostgrenze nach Deutschland kommt, der durchquert den Fluss – die Oder oder die Neiße.

Beim Blick von der Brücke wird klar, wie gefährlich es sein muss, die Oder bei Nacht zu durchschwimmen. 267 Verletzte und fast halb so viele Todesfälle hat die Antirassistische Initiative Berlin in ihrer Dokumentation zur deutschen Flüchtlingspolitik seit 1993 gezählt. Die Mehrzahl dieser Flüchtlinge verletzte sich oder starb an der Ostgrenze. Diese Grenze ist von Berlin gerade mal 53 Kilometer über die Autobahn oder eine gute Stunde mit dem Zug entfernt.

Die Nacht ist taghell

„Zwischen den USA und Mexiko wurde eine Mauer gebaut. Sechs Meterhoch ist sie, dann kommt ein zwanzig Meter freier Streifen und dann noch mal ein Zaun. Das Ganze ist jede Nacht taghell erleuchtet, als würde da gleich ein Fußballspiel stattfinden“, sagt Luis Moreno Hernandez, der in Tijuana im Nordwesten Mexikos in einem Hilfszentrum für Migranten arbeitet. Ihm ist klar, dass zwischen Deutschland und Polen niemals eine solche Mauer gebaut würde. „Dagegen stehen viele Gründe: die Geschichte der Berliner Mauer, die versprochene Aufnahme Polens in die EU.“ Aber eine Mauer aus Metall, wie die zwischen Mexiko und den USA, braucht Deutschland an seiner Ostgrenze nicht. Denn der Fluss zwischen Deutschland und Polen ist ein natürliches Hindernis.

Doch auch ohne Mauer haben die polnisch-deutsche und die mexikanisch-US-amerikanische Grenze viel Gemeinsames. Wegen dieser Gemeinsamkeiten ist Moreno nach Berlin gekommen. Drei Monate forscht er über die Situation legaler und besonders so genannter illegaler Migranten an der Grenze zu Polen. Finanziert wird der Aufenthalt von dem entwicklungspolitischen Austauschprogramm ASA und der Heinrich-Böll-Stiftung. Moreno ist Teilnehmer eines Süd-Nord-Projekts. Das bedeutet, dass nicht nur Menschen aus dem Norden den Süden untersuchen. Menschen aus dem Süden tun dasselbe im Norden.

Für Moreno gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Grenzen: Die USA wollen illegale Immigranten unbedingt schon an der Grenze stoppen. Denn einmal im Land, hat ein Illegaler in den USA gute Chancen, zu überleben, zu wohnen und zu arbeiten, ohne ertappt zu werden. In Deutschland dagegen, wo für fast alles Behördengänge notwendig sind, gibt es viel mehr Fallstricke. Diese Beobachtung bestätigt auch Bernd Knopf, Sprecher der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung. Deutschland sei auch im europäischen Vergleich das Land, in dem „Illegale“ die größten Probleme hätten, unerkannt zu bleiben.

Die Lebensgefahr steigt

Dennoch meint Moreno, auch die technische Aufrüstung der deutsch-polnischen mit der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze vergleichen zu können: Nacht- und Wärmesichtgeräte, Bewegungsmelder, Kohlendioxiddetektoren und Kameraüberwachung sollen hier wie dort jeden illegalen Schritt an der grünen Grenze enttarnen. Migranten versuchen deshalb, an weniger stark überwachten Stellen die Grenzen zu überqueren. Das ist an der Oder dort, wo der Fluss besonders breit und tief ist und schnell fließt. An der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze sind das die Stellen, an denen die Mauer unterbrochen ist, weil dort Wüsten, Gebirge oder Flüsse sind. Das Risiko ist groß, doch die Flüchtlinge, die ihren ärmlichen Lebensverhältnissen entkommen wollen, hält das nicht ab.

Grenzcamp in Tijuana

Seit die USA 1994 begannen, ihre Mauer zu Mexiko zu bauen, ist die Zahl der an der Grenze aufgegriffenen Migranten nicht zurückgegangen. Die Menschen werden nur in abgelegeneren Regionen – statt in Kalifornien im benachbarten Arizona – aufgegriffen.

An Deutschlands Grenzen dokumentierte der BGS für 1999 zwar weniger „Illegale“ als im Vorjahr, in dem er noch 38.000 erfasste. Besonders erfolgreich scheint die der BGS an der Grenze zu Polen zu sein, denn hier wurden 1999 mit 2.800 „Illegalen“ nur fast halb so viele wie im Vorjahr registriert. Die Flüchtlinge wurden aber nur früher aufgegriffen. An diesen Beispielen beschreibt Moreno die unterschiedlichen Strategien der USA und Deutschlands, illegale Migranten aufzugreifen.

Wenn Moreno im September nach Mexiko zurückkehrt, werden drei Deutsche nach Tijuana reisen und die Lebensumstände von Migranten an jener Grenze beobachten – dann mit dem Blick des Nordens auf den Süden. Sie werden gerade rechtzeitig zum mexikanischen Gegenstück des Grenzcamps kommen, das gegenwärtig im brandenburgischen Forst stattfindet. Anfang September hat Tijuana sein Grenzcamp. TOBI BECKER