„Mein Gott, war mein Vater wütend“

In Daniel Schmids Schweiz-Satire „Beresina“ tritt sie derzeit wieder einmal als intrigante Schreckschraube auf: Geraldine Chaplin. Ein Gespräch mit dem Star des europäischen Autorenkinos über ihre Paraderollen, über Weihnachten mit Luis Buñuel und ihre genussvolle Ausbeutung des Familiennamens

 taz: Sie waren immer sehr ehrlich, was Ihre Familie betrifft. Zum Beispiel haben Sie zugegeben, dass Sie den Namen Chaplin hemmungslos ausgebeutet haben.

Geraldine Chapin: Ich beute ihn übrigens immer noch aus.

War er manchmal auch eine Last?

So habe ich ihn nie empfunden. Manchmal habe ich mir selbst gesagt, dass es doch auch irgendeinen negativen Aspekt dabei geben muss, aber da ist einfach keiner. Der Name Chaplin hat mir immer nur Türen geöffnet. Und wenn die Türen offen waren, dann ging es noch weiter. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Liebe die Kinomacher immer noch für Chaplin haben. Das ist etwas anderes, als beispielsweise die Tochter von Henry Fonda zu sein. Fonda ist ein toller Schauspieler, und jeder bewundert ihn. Aber Chaplin wird geliebt, vielleicht weil er auf so mythische Weise das Kino selbst verkörpert.

Ihr erster Leinwandauftritt war ein Film Ihres Vaters: „Limelight“ – „Rampenlicht“. Da waren Sie acht Jahre alt. Haben Sie noch irgendeine Erinnerung an die Dreharbeiten mit Ihren Geschwistern?

Ich erinnere mich nur, wenn ich Fotos davon sehe. Aber ich weiß noch ganz genau, dass wir in dieser Zeit nicht zur Schule mussten. Und dass wir die ganze Zeit lachten, weil mein Vater herumtorkelte und einen Betrunkenen spielte. Ich erinnere mich auch, dass ich nur einen einzigen Satz zu sagen hatte: „Mrs Olsop’s out.“ Und dass mich meine kleine Schwester dauernd nachmachte.

Stimmt es eigentlich, dass Ihr Vater Sie als Kind mit Buñuel-Geschichten erschreckt hat?

Als wir klein waren, erzählte er uns immer Gutenachtgeschichten. Natürlich wollten wir am liebsten Angst haben. Also erzählte er grausame Geschichten. Das fing an mit: „Ich habe einen Freund, der hat einen Film gemacht, der . . .“ Und dann erzählte er den Anfang von „Der andalusische Hund“, wo eine Rasierklinge das Auge durchschneidet. Später habe ich Buñuel getroffen, da er ein guter Freund von Carlos Saura war. Als ich ihm von den Gutenachtgeschichten erzählt habe, fühlte er sich mordsmäßig geschmeichelt.

Das Verhältnis Buñuel/Chaplin soll aber nicht das beste gewesen sein . . .

Buñuel erzählte mir, dass er, kurz nachdem er in Hollywood ankam, versucht habe, meinem Vater Witze zu verkaufen. Zum Beispiel den mit der Pistolenkugel, die, kaum aus der Mündung herausgeflogen, kraftlos auf den Boden plumpst. Er sagte: „Dein Vater hat den Gag in „Der große Diktator“ benutzt, mit einer Kanone. Und er hat mich dafür nie bezahlt.

Und der legendäre „Weihnachtsskandal“? Kennen Sie da beide Versionen, die von Buñuel und die von Chaplin?

Buñuel hat es mir so erzählt: „Ein spanischer Schauspieler und ich, wir waren an Weihnachten bei deinem Vater eingeladen. Da gab es ein fürchterlich bürgerliches Weihnachtsfest mit einem großen Baum und vielen kleinen Geschenken für die Damen. Da entschlossen wir uns zu einem surrealistischen Akt. Beim Essen verständigten wir uns mit einem Blick und zertrampelten dann blitzschnell den ganzen Baum mitsamt dem Schmuck. Es war eine wunderbare surrealistische Aktion.“ Dann fragte ich meinen Vater, und der sagte: „Dieses Monster Buñuel war bei mir eingeladen. Es war ein wunderbares harmonisches Fest, und plötzlich haben sie meinen Weihnachtsbaum und alle Geschenke zerstört. Ein grauenhafter Akt der Barbarei!“

Weshalb war Charlie Chaplin später dagegen, dass Sie Schauspielerin wurden?

Er wollte auf keinen Fall, dass wir etwas mit dem Kino zu tun haben. Und natürlich wollte er auf gar keinen Fall, dass wir seinen Namen ausbeuten (lacht). Dass ich’s trotzdem getan habe, war natürlich auch eine Art Rebellion. Nichts auf der Welt hat ihn mehr geärgert als das. Und da ich mich nicht gut mit ihm verstand, habe ich den Namen sogar bis zum Allerletzten ausgebeutet. Das brachte ihn außer sich. Ich glaube, er hat deshalb sechs Jahre nicht mit mir geredet. Mein Gott, war er wütend. Mit seinem unglaublichen Gerechtigkeitssinn fand er das einfach nicht richtig.

Wann haben Sie sich dann versöhnt?

Nach „Doktor Schiwago“ hatte das seine Logik. Ich war aus dem Haus, war ein Stück meines eigenen Weges gegangen, und das hat er anerkannt. Er war dann auch ziemlich stolz.

Würden Sie „Doktor Schiwago“ als einen Schlüsselfilm für Ihre Karriere bezeichnen?

Ja, auch heute noch. Nur früher sagten mir die Leute: „Ach Doktor Schiwago, das ist mein Lieblingsfilm, Sie sind so toll darin.“ Heute sagen sie: „Ach Doktor Schiwago, den hab ich leider nicht gesehen, aber meine Mutter hat mir gesagt, dass es ihr Lieblingsfilm ist.“ Aber im Ernst, es war wirklich ein sehr wichtiger Film für mich.

Und er ist gar nicht so unmodern.

Er ist sogar unglaublich modern. Ich habe diesen Film vor fünf Jahren wieder gesehen und konnte es nicht fassen: Wie kann es sein, dass man zu Omar Sharif hält, der ja eigentlich ein Schuft zwischen zwei wunderbaren Frauen ist und sie beide betrügt. Und das in einem Film, der seinen Helden auf keinerlei Weise moralisch verurteilt. Das hat man damals in einem Mainstream-Film ohne weiteres akzeptiert.

Ihre nächste wichtige Etappe war die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Carlos Saura, stand da auch bei Ihnen das politische Bewusstsein im Vordergrund?

Es war Saura, der in mir das politische Bewusstsein erst erweckt hat. Für ihn als engagierten Filmemacher war es sozusagen unvermeidlich, damals, auf dem Höhepunkt des Franquismus. Er war fest entschlossen, von innen gegen die Diktatur zu kämpfen, nicht von außen wie Arrabal und andere Künstler. Ehrlich gesagt war mir damals anfangs nicht klar, dass das, was wir in der Diktatur taten, auch etwas mit Verantwortung zu tun hatte. Ich brannte darauf, zu filmen, und es war in mancher Hinsicht auch ein Spiel für mich.

Wie haben Sie damals das politische Klima in Spanien empfunden?

Im Privatleben war die Politik omnipräsent, wir diskutierten ständig. Wenn wir einen neuen Film herausbrachten – ich sage wir, weil ich mich damals völlig mit Carlos’ Meinung identifizierte –, dann wollten wir keine Märtyrer sein, keine Opfer. Nein, wir wollten intelligente Filme machen, die sich der Zensur nicht unterwarfen. Die erste Frage, die uns immer gestellt wurde, war: „Was hat die Zensur herausgeschnitten?“ Aber bei Saura wurde nie etwas herausgeschnitten. Das Politische war versteckt, es war ein Katz-und-Maus-Spiel.

Sie haben mit Saura neun Filme gedreht. Der vielleicht wichtigste ist „Anna und die Wölfe“. Auf der einen Seite spielen Sie eine ganz normale Frau, ein Dienstmädchen, und auf der anderen Seite sind Sie das gesamte, von der Diktatur geschundene spanische Volk.

Damals hatte man Carlos immer wieder vorgeworfen, seine Filme seien zu metaphorisch. Wie man im Spanischen sagt: Die Kritiker suchten wirklich das fünfte Bein der Katze. Und sie fanden auch dort Symbole, wo gar keine waren. Deshalb beschloss Saura, einen Film zu drehen, der völlig symbolisch ist.

Es sollte alles drin vorkommen: Die Mutter als das Vaterland, die Militärs, die Kirche, die schlimmsten Staatsorgane usw. Ich war dann der gemeinsame Feind, den alle zusammen umbringen, ich war das Fremde. Trotzdem spielte ich Anna als ganz normale Frau. Wahrscheinlich wirkt es deshalb so brutal.

In Sauras Filmen sprechen Sie akzentfrei Spanisch. Im Laufe Ihrer Karriere haben Sie in drei Sprachen gespielt, in welcher fühlen Sie sich am wohlsten?

Schwer zu sagen. Wahrscheinlich im Englischen. Aber da habe ich keinen Akzent bzw. einen, der völlig neutral ist. Also muss ich wie eine Fremdsprache entweder Britisch oder Amerikanisch reden. Nur bei Scorsese in „Age of Innocence“durfte ich so sprechen wie ich selbst. Anscheinend habe ich exakt den Akzent der New Yorker Oberschicht um die Jahrhundertwende. Also genau zwischen Britisch und Amerikanisch. Scorsese sagte immer: „Hört Geraldine zu, so müsst Ihr sprechen.“

Zurzeit sind Sie in Daniel Schmids Schweiz-Satire „Beresina“ auf der Leinwand zu sehen. Sie selbst sind in der Schweiz aufgewachsen und leben teilweise dort. Erkennen Sie das Land im Film wieder?

Ich glaube, mein Schweiz-Bild entspricht sehr dem der Hauptfigur, der russischen Nutte Irina (lacht), aber ich bin nicht so naiv wie sie. Natürlich besteht die Schweiz nicht nur aus Banken, Bergen, Kukucksuhren und Schweizer Käse. Andererseits gibt es diesen dumpfen Patriotismus tatsächlich. Ich habe sehr viel Zeit meines Lebens in Spanien verbracht, da könnte man auch so einen Film drehen, in dem Spanien vor allem aus Rotwein, Stieren, Flamenco und Paella besteht.

Sie spielen in „Beresina“ die durchtriebene, korrupte, machtgeile Modeschöpferin Charlotte De. Die Figur wirkt eigentlich wie einem Briefroman von de Laclos entsprungen.

Der Fächer, die Bosheit, dieses aufgeregte Getue, wie im 18. Jahrhundert! Sie ist eine Dirigentin der Intrigen, aber gleichzeitig muss sie im Hintergrund bleiben. Eigentlich will sie die Königin sein, aber die obere Gesellschaft akzeptiert sie nicht. Und je weniger sie akzeptiert wird, umso eleganter und unerträglicher wird sie.

Die Figur erinnert an die Dame, die Sie in „The Moderns“ von Alan Rudolph gespielt haben, auch da gibt es die Idee, die Oberschicht in eine bestimmte choreografierte Bewegung zu übersetzen. Und auch in Robert Altmans „A Wedding“ – „Eine Hochzeit“ dirigieren Sie alles – als Zeremonienmeisterin einer Hochzeit.

Es muss mit meiner physischen Erscheinung zu tun. Groß und dünn – so stellen sich die Regisseure nun mal hyperaktive neurotische Schreckschrauben vor. Vor allem Altman hat mich immer so besetzt.

Sie haben mit Altman drei Filme gedreht . . .

. . . aber ich habe das Gefühl, es waren zwanzig.

Suchen Sie sich auch heute noch Ihre Regisseure aus?

Ich habe einen Agenten. Aber um ehrlich zu sein, spiele ich alles, was man mir anbietet. Alles. Na ja, fast. Ich habe nicht mehr so viele Angebote. Das ist das Alter, die Konkurrenz. Es ist nicht so leicht, als Schauspielerin zu altern. Auch sonst nicht. Das ist traurig, aber man muss es akzeptieren.

Kürzlich haben Sie für einen amerikanischen Fernsehsender Mutter Teresa gespielt. Nehmen Sie auch solche Rollen ernst?

Gerade solche Parts, die nicht gerade meine Traumrolle sind. Ich habe mir jeden Dokumentarfilm angesehen, den es auf der Welt von ihr gibt. Dann habe ich bei mir zu Hause eine Art private Gehirnwäsche veranstaltet. Ich habe diese Filme Tag und Nacht laufen lassen, vor und während der Dreharbeiten. Nach dem Drehen ging ich ins Hotel, wo ich ihr Bild über die Spiegel gehängt hatte. Das ging so weit, dass ich mich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen konnte, weil ich dachte: „Das ist sie nicht.“ Kurz: Ich war von ihr besessen.

Sie haben immer vehement bestritten, dass Sie ein Star sind, warum eigentlich?

Ja, warum eigentlich? Dabei werde ich sogar auf der Straße erkannt (lacht)!

Neulich ist mir in Cannes etwas unglaublich Lustiges passiert. Ich stand in einer Apotheke, und hinter mir begannen zwei ältliche Damen zu tuscheln, die mich irgendwie erkannt hatten, aber nicht auf meinen Namen kamen. Plötzlich sagte die eine: „Ich hab’s: Das ist die Tochter von Laurel und Hardy.“ INTERVIEW:
KATJA NICODEMUS