Die Macht des Deutens

Ist die Wahrheit auf der Seite der Sprache oder der Körper? Mit „Äug“ zeigt die Wee Dance Company ihr erstes abendfüllendes Stück in den Sophiensaelen über Wirren der Kommunikation, getanzte Fiktionen und Text als Kontrolle

„Ich glaube, wir sollten meine Mutter besuchen“, sagt sie und schleppt ihn mit einem Griff unter dem Kinn ab wie einen toten Fisch. Eine klassische Szene des Doublebinds, wie aus dem Lehrbuch der Kommunikationsanalyse: Mit doppelbödigen Ritualen und Floskeln versichert sich das Paar seiner Gemeinsamkeit und probt zugleich die Macht über den anderen – ist die Wahrheit auf der Seite der Sprache oder der der Körper? Vertrauensbeweise einfordern, Fallen aufstellen, sich entziehen: dafür taugen Körpersprache und Berührungen ebenso wie der Dialog.

„Sie“ wird gespielt von Sommer Ulrickson: Sie kam vor zwei Jahren aus Kalifornien nach Berlin und hat neben Gastspielen an der Volksbühne im Pfefferberg Fuß gefasst. Ihre Tricks, die sich später zu einer Mischung aus Aggressivität und Hilflosigkeit steigern werden, lässt sie an Marko E. Weigert aus, ehemals Tänzer der Toladá Dance Company. Zusammen mit Dan Pelleg aus Israel, der auch zu Toladá gehörte, haben Ulrickson und Weigert voriges Jahr die Wee Dance Company gegründet und kurze Stücke im Pfefferberg gezeigt. Dass sie den fließenden und genussvollen Bewegungsstil des Toladá-Choreografen Jospeh Tmin beherrschen, wusste man schon. Dass sie in ihren eigenen Stücken mehr wollen, merkt man der ersten langen Produktion, „Äug“, in den Sophiensaelen an.

Für „Äug“ ist Tanz in ein Geflecht aus Deutungsebenen, Beobachtungen und Kontrolle gesetzt, in dem Fakten sich zunehmend in Fiktionen auflösen. Beziehungsstress und Eifersuchtsszenen sind da genauso lediglich Übungsmaterial, um sich der Subjektivität jeder Wahrnehmung bewusst zu werden, wie die Geschichte eines Mannes, der nach Hause kommt. Fünf- oder sechsmal hört man die Beschreibung seiner Ankunft, jedes Mal aus einer anderen Perspektive erzählt, die vom Überwachungsprotokoll bis zum inneren Monolog reicht. Ins Stolpern und Stottern geraten die Texte, wenn der Mann zu tanzen beginnt – uneinholbar saust die Bewegung der akribischen Beschreibung davon, und dem eben noch fantasiereich spekulierenden Überwachungsagenten fällt nur noch ein: „Person benimmt sich ausgesprochen merkwürdig.“

Interpretieren, auswerten, kontrollieren: das gehört zum Handwerk jeder Kunst. Doch dass die Abgleichung von Selbstbild und Fremdbild auch im Alltag zunehmend verlangt wird, gibt der künstlerischen Selbstbeobachtung modellhaften Charakter. Einmal steht Sommer Ulrickson am Telefon und beantwortet eine Kontaktanzeige: Entwerfe mit drei Sätzen ein attraktives Bild von dir und versuche, ihm ähnlich zu werden.

Manchmal stehen in „Äug“ die Ebenen von Tanz, Erzählung, Musik und Performance etwas unverbunden nebeneinander; manchmal erscheint die Bauweise des Stücks zu durchsichtig als eine Hilfskonstruktion, um Tanz an das Diskurssystem anderer Künste anzuschließen. Doch das stört wenig, denn die einzelnen Elemente sind attraktiv genug, durch den Abend zu tragen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Äug“, 5.–7. 8. und 9.–14. 8., 21 Uhr,in den Sophiensaelen, Sophienstr. 18