Die Wüste lebt

Wo Berlin am urbansten ist: Vier Wochen lang hat Folke Köbberling Einwürfe und Liebeserklärungen zum Alexanderplatz gesammelt

Samstag, 10. Juni 2000: „Ich liebe den Alexanderplatz. Er ist unpraktisch, weitläufig, und man muss ewig warten an den Ampeln, bis man hinkommt. Mit dem Fahrrad ist es lebensgefährlich. Aber einmal klebte mir was am Reifen, und ich hielt mitten auf der Straße an. Es war ein 50-Mark-Schein. Alle Autos hinter mir bremsten, und ich überlebte. Die Straßenbahn fährt auch drüber – über den Platz. Das hat fast was Dörfliches. Das Beste (ist), dass man nie weiß, wie groß er eigentlich ist. Die Gebäude, die eigentlich so hässlich sind, finde ich schön, weil sie so platziert sind, als ob jemand die dahin gestellt hat, ohne Design oder Stadtplanung studiert zu haben. Sie sind wie hingeklebt oder einfach abgestellt. [. . .] Im Gegensatz zum Potsdamer Platz ist diese Achtlosigkeit fast schön. Und dazwischen laufen Leute rum, die irgendwohin wollen.“ N.N.

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Dienstag, 20. Juni 2000: „(...) Der Alex ist anders. Früher habe ich den Alex nicht gemocht. So langsam merke ich immer öfter, dass ich innehalte und ein Gefühl der Zuneigung entsteht. Ich hätte nie gedacht, dass der Alex mal ein Begriff für Berlin, für mich werden wird. Aber er ist Berlin. Er lässt Platz, Raum, Freiheit. Er ist ungeordnet. Der Alex ist aus viel Beton, er ist grau und hat einen rauen Charme. Er ist einfach so da, will nicht bewundert werden, man kommt aber nicht so einfach an ihm vorbei! Kommt man von draußen in die Stadt, sieht man immer als Erstes den Fernsehturm – also den Alex, obwohl noch so viel passiert, bis man endlich da ist. Die Häuser tragen für viele noch die alten Namen: Haus des Lehrers, Haus des Reisens, Centrum Warenhaus – das Haus der Elektroindustrie. Komischerweise sind die Namen immer noch Programm. Im H. d. E. ist A – Z, im Warenhaus gibt’s immer noch Ramsch, der Fernsehturm brummt immer noch im Walkman, und im Haus des Lehrers gibt’s Futter für den Kopf. Das ist eine Liebeserklärung.JAN FRONTZEK

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Montag, 3. Juli 2000: „Als Westdeutscher war mir das Ostberlin nach der Wiedervereinigung bis vor wenigen Tagen völlig unbekannt. Der Potsdamer Platz, der Gendarmenmarkt, das Nikolaiviertel, obwohl alle drei völlig unterschiedlich, haben mich tief beeindruckt. Der Alexanderplatz hingegen ist ausgesprochen hässlich, kalt, unpersönlich. Abends ist er so leer, dass man sich unsicher fühlt. Um diesen Platz sehenswert zu machen, muss sehr viel abgerissen, saniert und neu gestaltet werden.“RÜDIGER A., AACHEN

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Freitag, 30. Juni 2000: „Alexanderplatz – 16.15 Uhr an den Treppen vor Saturn. Ein Typ mit einem großen gelben Jesus-Schild geht langsam kreuz und quer durch den Platz. Jetzt ist er vor dem Kaufhof. Aus irgendwo kommen Saxophon-Jazz-Klänge, ich schätze U-2-Ausgang. Der ein bisschen langgeweilte Jesus-Typ und die hüpfigen Jazz-Klänge passen ganz gut zueinander. An der Seite vom Berolina-Haus wächst Efeu bis zum vierten Stock und der Platz ist voll. Das Wasser vom Brunnen füllt die Saxophon-Pausen und der Jesus-Typ kommt wieder vorbei. Er riecht nach Wurst; Alex ist einer der wenigen noch so gemischten öffentlichen Plätze Berlins. Der neue Alex-Plan sieht unglaublich langweilig aus, nichts zu hören, nichts zu riechen, nichts zu sehen, außer vielleicht dem reflektierten Bild der Ordnung an die sauberen Glasflächen. Ein zweiter Potsdamer Platz – und Berlin noch eine Stadt zum Ein- und Verkaufen. S. K.

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Sonntag, 11. Juni 2000: „Ich bin Ausländer und seit letzte August bin ich nicht in Berlin gewesen. Ich weiß ungefähr, was für eine wichtige Platz Alex für Berlin ist. Aber trotzdem, glaube ich, sie haben gar nix auf es gekümmert. Alex Turm finde ich ein Symbol, jedes Mal, dass ich nach Berlin komme, weiß ich genau, wo ich bin, danke zu der Turm. Alexanderplatz war ein Zentrum, aber jetzt nich mehr mit diese Potsdamer Platz, oder? Man sollt Alex ein bisschen schiker machen. Zum Beispiel, gefällt mir überhaupt nicht diese schmutzige Wasser neben dem Kaufhof, oder diese schreckliche Gebäude Forum Hotel. Sieht alt und passt nicht mit diese super kosmopolitische Atmosphere des Berlin. Was mir sehr gefällt, ist diese Clock, wo man Stunden vom fast ganzen Welt haben kann. Über BVG-Gebäude, das finde ich gail, frag nicht, aber es ist ein Gefülle. Ah, übrigends, ich wollt auch sagen, Alex als Treffpunkt ist super wichtig. Ich selbst, wie viel Mal habe ich nicht mit mein Freunden verabredet? (. . .) Bitte take care of Alex, es ein besondere Bedeutung für mich.“ N.N.

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Dienstag, 20. Juni 2000: „Für uns fängt am Alex der Osten an. Mitte ist zwar technisch gesehen schon Osten, aber erst hier, mit den großen Plattenbauten, fängt er richtig an. Auf jedem Fall muss hier was verändert werden, weil der Platz so, wie er jetzt ist, etwas verkorkst wirkt. Auf der anderen Seite sind einige Bauten Zeugen einer vergangenen Zeit und haben irgendwie ihren eigenen Charme.“ FRANK PUCKHABER
und JENS KLUMP

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Samstag, 10. Juni 2000: „Architektonisch mag ich den Alex sehr gerne. Diese sozialistische Architektur, die da ganz Weltklasse daherkommen will, hat total viel Charme. Aufhalten – vor allem länger – tue ich mich eigentlich nie. Also irgendwas ist doch negativ. Früher (zu Mauerzeiten) als Touri war ich noch gerne im Kaufhof: gutes Ostpapier abgreifen. Heutzutage interessiert mich hauptsächlich das Warenangebot bei Mekong. Die tollen Ostbuletten gibt es auch nicht mehr. Worauf ich hinauswill: Es gibt zu viel konsumorientierte Locations, zu viele Leute, die kaufen wollen, zu viele Leute, die Verkäufer sind. Es müsste ein paar Orte geben, die länger zum Verweilen einladen. Damit meine ich nicht, dass mehr Bänke aufgestellt werden. Orte wo man mehr machen kann als sich hinsetzen, ausruhen und die Tauben füttern.“ SCHELLI

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Samstag, 10. Juni 2000: „Ich komme so alle zwei Tage zum Alex, seit ich . . . Moment, seit ich fotografiere, im Osten wohne und mir keine vernünftigen Abzüge oder Diaentwicklungen leisten will. Ich gehe also zu Saturn, ein schrecklicher Laden. Aber ich mag den Berliner-Zeitungs-Mann, den Wurstmann und den, der in seiner Losbude eingezwängt ist. Ich mag nicht besonders das Haus. Wäre ich nicht in diesem ewigen Entwicklungsgutschein-Zyklus, wäre ich nicht so oft hier, fast nie. Ich habe keine Freunde hier. Schon, zurzeit im Haus des Lehrers neuerdings, manchmal, aber auf dem Platz nicht. Ich bleibe nie hier stehen, nicht mal für die Kunst im U-Bahnhof. Ich hänge an keinem Haus im Speziellen, es sei denn, man nennt den Turm ein Haus. (. . .) Ich habe noch nie ein Los gekauft, will ich auch nicht. Ich will auch kein Probeabo der Berliner, eigentlich will ich, dass diese Typen hier rumsitzen und noch viel mehr. Ich will, dass hier ein guter Fischladen aufmacht und dass auf dem Haus gegenüber vom Lehrer wieder eine Leuchtwerbung ist. Ach ja, und ich habe eine persönliche Aversion gegen Hans Kollhoff, ich finde diesen jaguarfahrenden Architektur-Heino, der sicher . . . Ich stelle ihn mir privat einfach noch schlimmer vor, als was er für mich als Architekt verkörpert, nämlich eine Mischung aus Albert Speer, Mussolini und Claudia Schiffer. (. . .) Am Alex hat er und seinesgleichen nichts zu suchen. Der Alex ist für Würstchen Verkäufer und murmelnde Losbuden. (. . .)“ N.N.

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Freitag, 30. Juni 2000: „Am liebsten mag ich am Alex, dass man dort so viel Himmel sieht. Man kann sich auch gut auf die Balustrade am Kaufhof setzen und das Wuseln auf dem Platz beobachten. Auf der anderen Seite der S-Bahn, beim Fernsehturm, kann man auf einer Bank rasten und dem Tosen des Verkehrs und der Springbrunnen zuhören. Der Fernsehturm. Das Staatsratsgebäude. Science-Fiction. Utopischer Ort. Der Alex ist ein Symbol für Ostberlin. Jetzt ist auch dieser Ort an der Reihe, ins Image der neuen Hauptstadt eingepasst zu werden. (Erinnerungen, keine bösen Träume. Entspannen.) Corporate Identity für eine ganze Stadt. Perfekt durchgestaltete Benutzeroberfläche. Optimale Benutzerführung garantiert reibungslose Abwicklung des Publikumsverkehrs. Entnutzen, abnutzen, vernutzen, umnutzen! R. R.