Geoutet und gelyncht

von RALF SOTSCHECK

Das Halskorsett war das einzige, was Ian Armstrong mit dem Mann auf dem Foto gemein hatte. Seitdem fürchtet er um sein Leben. Die News of the World, eine britische Sonntagszeitung, hatte vor drei Wochen begonnen, Steckbriefe pädophiler Straftäter abzudrucken. 110.000 sollten es insgesamt werden, in der ersten Folge wurden die Fotos und letzten bekannten Aufenthaltsorte von 46 Männern veröffentlicht – darunter auch von dem Mann mit dem Halskorsett, dem 60-jährigen Peter Smith.

Sechs Stunden später hatten sich 300 Menschen vor Ian Armstrongs Haus versammelt. Sie beschimpften den 49-Jährigen als „Vergewaltiger“, „Bestie“, „Perversen“. Seinen Kindern riefen sie „Pädophilenbrut“ nach. Im Nachbarhaus, in dem Armstrongs geschiedene Frau lebt, warfen sie eine Fensterscheibe ein. Die Schmähungen hörten auch dann nicht auf, als die Polizei anrückte und den Leuten versicherte, dass Armstrong keineswegs mit Smith identisch, sondern ein unbescholtener Bürger sei.

Erst als in der Nacht zum Freitag 200 Menschen in Portsmouth versuchten, den in organisierte Kinderpornographie verwickelten Victor Burnett zu lynchen (siehe taz vom Samstag), beschloss die Zeitung, ihre Aktion einzustellen. Burnett ist inzwischen untergetaucht. Stuart Kuttner, der Chef vom Dienst, sagte, seine Mitarbeiter seien bedroht worden, seit die Kampagne begann. Man habe umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

Die Aktion der News of the World habe nichts mit dem Schutz von Kindern zu tun, meint George Barrow vom Verband der Bewährungshelfer: „Wenn ein Pädophiler aus seinem Wohnviertel vertrieben wird, dann verschwindet er ja nicht von der Erde. Er zieht in irgendeine andere Stadt voller Kinder. Aber dort lebt er anonym, zieht vielleicht häufig um oder ändert regelmäßig seinen Namen. Unter diesen Umständen ist es für die Polizei viel schwieriger, ihn zu überwachen oder ihn zur Therapie zu bewegen. Im Ergebnis ist das Risiko für die Öffentlichkeit also größer und nicht geringer.“ Barrow sagt, die Wachsamkeit der Eltern müsse sich auf die Kinder konzentrieren und nicht auf irgendeinen Verdächtigen: „Der Kinderschänder ist oft eine Person, der man vertraut hat, und nicht jemand, den man verdächtigt hat.“ Innenminister Jack Straw stimmt Barrow zu. Wenn Vigilantengruppen und Medien die Pädophilen in den Untergrund treiben, sagt Straw, dann könne die Öffentlichkeit nicht mehr wirksam geschützt werden. Das werde sie ohnehin nicht, argumentierte die News of the World, der Fall Sarah Payne habe das bewiesen (siehe Kasten). Deshalb hatte das Blatt seine Steckbriefaktion „Kampagne für Sarah“ genannt.

Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Mori sind 88 Prozent der Befragten dafür, die Namen und Adressen verurteilter pädophiler Straftäter zu veröffentlichen. Die Eltern der kleinen Sarah Payne unterstützten die Kampagne ebenfalls: „Ich bin gegen Lynchjustiz“, sagte Sarahs Mutter Sara Payne, „aber Eltern haben das Recht, ihre Kinder zu schützen. Es darf nicht sein, dass eine Person, die einem Kind wehgetan hat, zehn Jahre später wieder in derselben Straße auftauchen kann.“ Auch die News of the World ist angeblich gegen Lynchjustiz: „Wir möchten nicht, dass unsere Leser irgendwelche Maßnahmen ergreifen“, schrieb das Blatt. Dass es sich dabei lediglich um eine rechtliche Absicherung handelte, wurde im Leitartikel deutlich. Die „Bestien sollen ausfindig“ gemacht und „geschnappt“ werden, hieß es dort. Und am Ende des Artikels: „Wir sagen es noch einmal: Es ist Zeit zu handeln.“

Und die Leser handelten: Fünf Männer sind seitdem zum Angriffsziel geworden, neben Ian Armstrong traf es zwei weitere Unschuldige. Die Journalistin Charlotte Raven glaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Mob den ersten „Sarah-Payne-Gedächtnis-Skalp“ erobert, obwohl die Kampagne nun eingestellt worden ist. Bei keinem anderen Thema werden die Lynchinstinkte der Menschen so schnell geweckt wie bei Kindesmissbrauch. Der Verband der Bewährungshelfer hat ein Dossier mit 40 Fällen von Lynchjustiz zusammengestellt, die sich bereits vor der Veröffentlichung der News of the World ereignet hatten. Im Februar ist zum Beispiel der 47-jährige William Malcolm in seiner Wohnung in Ostlondon durch einen Kopfschuss getötet worden. Malcolm war einschlägig vorbestraft. Die Nachbarn sollen den Mord damals gefeiert haben. Im März ist ein 24-Jähriger, der ebenfalls wegen Pädophilie vorbestraft war, von Vigilanten entführt und eine Woche lang gefoltert worden.

Den selbst ernannten Rächern unterlaufen jedoch immer wieder Fehler. Der 67-jährige Francis Duffy wurde bei einer Attacke schwer verletzt. Die Täter hatten ihn für den wegen Kindesmissbrauch verurteilten Brynley Dummett gehalten, dessen Bild in der Manchester Evening News veröffentlicht worden war. In der Nähe von Birmingham kam ein 14-jähriges Mädchen bei einem Brandanschlag auf ihr Wohnhaus ums Leben. Die Brandbombe war für das Nachbarhaus bestimmt gewesen, wo ein wegen Vergewaltigung von Kindern verurteilter Mann lebte. In einem anderen Fall trank sich ein Paul Webster zu Tode, nachdem er fälschlich als Kinderschänder bezichtigt und drei Wochen lang täglich bedroht worden war. Webster, ein arbeitsloser Musiker, hatte Kindern in Plymouth Gitarrenunterricht gegeben. Und ein Frank Revill wurde vor drei Jahren fast gesteinigt, als er seiner Tochter beim Umzug nach Folkestone in Kent half: Die Nachbarn waren der Fehlinformation aufgesessen, wonach ein Pädophiler in ihr Viertel ziehen würde.

Der Lynchmob macht selbst vor Polizeirevieren nicht halt. Im April 1998 ging das Gerücht um, dass der berüchtigte Kinderschänder Sydney Cooke auf der Polizeiwache in Bristol festgehalten werde. Im Nu versammelte sich eine Menschenmenge und griff das Revier mit Steinen und Brandbomben an, 46 Polizeibeamte wurden verletzt. Die meisten Fälle dieser Art ereigneten sich, nachdem Boulevardzeitungen empört berichtet hatten, dass prominente Täter wie Cooke nach Verbüßung ihrer Strafe freigelassen worden waren. Die „Kampagne für Sarah“ war keine neue Idee, der Sunday Express hatte bereits vor Jahren Steckbriefe veröffentlicht – unter der Überschrift: „Könnten diese widerlichen Männer nebenan wohnen?“ Als er noch oberster britischer Richter war, entschied Lord Bingham, dass die Benachrichtigung der Nachbarschaft bei Zuzug eines verurteilten Pädophilen, wie es in Teilen der USA üblich ist, in Großbritannien nicht in Frage komme. Bei einer Klage, die zwei Straftätern gegen die walisische Polizei eingereicht hatten, weil sie die Namen preisgegeben hatte, urteilte Bingham: „Es liegt nicht nur im Interesse der Straftäter, sondern der ganzen Gesellschaft, dass es diesen Menschen ermöglicht und ihnen dabei geholfen wird, ein normales, gesetzestreues Leben zu führen. Das Risiko einer Wiederholungstat kann es unter bestimmten Umständen rechtfertigen, ihre Namen einem eng umgrenzten Kreis bekannt zu machen, aber eine generelle Politik der Enthüllung ist niemals gerechtfertigt.“ In Britannien werden seit knapp drei Jahren Schuldirektoren, Ärzte, Jugendclubleiter, die Manager von Sportvereinen und die Vermieter benachrichtigt.

Die erneute Diskussion um das Thema hat den britischen Premierminister Tony Blair in ein Dilemma gestürzt. Aus einer Notiz, die der Presse zugespielt wurde, geht hervor, dass Blair befürchtet, von den Tories bei populistischen Themen wie „law and order“ ausgestochen zu werden. Aber die Kampagne der News of the World konnte er nicht gutheißen, da Polizei und Experten dagegen waren. Die Labour-Regierung hofft, dass neue elektronische Sender die Debatte beenden könnten: Sie schlagen Alarm, wenn sich der Träger zu bestimmten Tageszeiten einer Schule oder einem Spielplatz nähert. Wer einmal einschlägig verurteilt ist, soll den Sender sein ganzes Leben lang tragen. Dann wären Menschen wie Ian Armstrong vor Verwechslungen geschützt, sagte ein Beamter. Die Polizei in Manchester bezeichnete die Angriffe auf Armstrong als „unverantwortliche Reaktion auf emotionsgeladene Geschichten in der Presse“. Die Beamten haben in Armstrongs Haus einen Panikknopf eingebaut, mit dem er die Polizei alarmieren kann. „Es ist wie ein Albtraum“, sagt Armstrong, der sich trotz der Beendigung der „Kampagne für Sarah“ nicht sicher fühlt. „Ich wünschte, ich könnte aufwachen. Ich habe wahrlich kein Mitleid mit Kinderschändern, aber diese Selbstjustiz muss aufhören.“

Hinweise:88 Prozent der Briten sind dafür, die Namen und Adressen verurteilter pädophiler Straftäter zu veröffentlichenIm Februar wurde ein einschlägig Vorbestrafter per Kopfschuss getötet. Die Nachbarn sollen den Mord gefeiert haben