Zivilgesellschaft und Barbarei

Der Rechtsextremismus in Deutschland lässt sich nicht nur an seinen Gewalttaten messen. Vielerorts herrscht schon brauner Frieden, existiert eine völkische Demokratie

Lange wurden die Diskurse in Deutschland von einem Begriff beherrscht, dem man trotz aller Versuche der Auslotung nie recht auf den Grund zu kommen schien: dem Begriff der Zivilgesellschaft. Sie stand ganz oben auf der Hitliste theoretischer Erwägungen über den wahren Ort des Guten. Nun, da der Kampf gegen Rechtsextremismus plötzlich Konjunktur hat, sind andere Dinge gefragt, und die Queen of Pop ist tot. Jetzt dominiert eine Wortverwandte das Geschäft, deren leuchtende Gestalt dem deutschen Hang zum Heldi- schen wohl eher zu entsprechen scheint: die Zivilcourage. Wenn nur jeder Einzelne dem rechten Gewalttäter heroisch in den Arm fiele, dann wäre alles wieder gut. Eine zivile Gesellschaft aber ist aus der Logik ihrer Entwicklung diejenige Gruppe von Menschen, die nach und nach jene immer klarer präzisierten Rechte und Freiheiten der Individuen gegenüber der jeweils herrschenden Macht erkämpfte. Die Ausformung von entsprechenden Gesetzen war also auch das Produkt einer überparteilichen Verständigung, die Vertreter großer Institutionen wie Kirchen und Gewerkschaften ebenso einschloss wie NGOs oder Unternehmen. Ihre Motive mögen dabei sehr verschieden gewesen sein, der Druck von Moral und Vernunft jedoch hat gemeinsames Handeln über Interessenunterschiede hinweg ermöglicht. Das „Zivile“ ist von jeher das Gegenteil von Barbarei, und der Diskurs darüber, was barbarisch ist, hat sich historisch Schritt für Schritt entwickelt.

Man stelle sich vor, es gäbe heute solch eine potente Gruppe von Menschen, die bereit ist, sich den Fragen zu stellen, die der Rechtsextremismus aufwirft, die den vorliegenden Analysen traut und fähig ist, Fehler der Vergangenheit auch als solche zu erkennen. Also keine konfliktfreie Promizone, vielleicht sogar noch unter der Ägide des Innenministeriums, sondern Menschen, die das angewachsene Ausmaß an Barbarei auch als solches begreifen. Sie würden verstehen, dass Rechtsextremismus längst nicht nur an seinen Gewalttaten zu messen ist, sondern dass vielerorts brauner Frieden herrscht. Sie würden offen sagen, dass es hier in Deutschland Regionen gibt, in denen sich eine völkische Demokratie entwickeln konnte. Eine Demokratie mit Parteien, Verwaltung und öffentlichem Leben, die in Kauf nimmt, dass die „undeutschen“ Minderheiten ein Leben in Angst führen und in ihrem Alltag Schikane und Terror ausgesetzt sind. Sie würde nicht dem Prinzip „steriler Aufgeregtheit“ folgen, von dem schon Max Weber wusste, sondern einer Verantwortungsethik. Eine solche Gruppe von Personen aus Verwaltung und Politik, aus Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmen, aus antirassistischen Initiativen und NGOs würde also zusammenrücken und ernsthaft nachdenken. Sie würde sich anschauen, was geschehen ist, und sie würde fragen, was nützt und was nicht. Sie würde sich bei aller gebotenen Eile Zeit nehmen. Ihr Blick wäre selbstverständlich nicht allein auf die Nazis fixiert, sondern zuerst auf die Opfer und deren Situation. Die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Missachtung, besonders die der Flüchtlinge und Zuwanderer, ihre Anerkennung wäre die allererste und logische Folgerung. Dem Zustand der Demokratie und der demokratischen Kultur käme dann als nächstes Aufmerksamkeit zu.

Die politischen Folgen wären verheerend: der Bruch aller Tradition. Kein hektisch-hysterisches Suchen nach dem Knopf, mit dem man „das“ schnell abstellen kann, um weiterzumachen wie bisher. Keine „deutsche“ Lösung, wie nach dem Pogrom von Rostock, wo auf die Verletzung der Menschenrechte mit der Einschränkung der Grundrechte, in dem Fall des Grundrechts auf Asyl, geantwortet wurde. Niemand käme auf die Idee, via Nazis das Postgeheimnis auszuhöhlen, das Demonstrationsrecht anzugreifen, das Arbeitsrecht auf ideologische Kontrolle auszudehnen, Videokameras aufzustellen oder endlos ein in Anbetracht der Lage aussichtsloses und wirkungsloses Verbot der NPD zu diskutieren. Stattdessen stünden die Fragen der Anerkennung im Vordergrund: Wie auch in Zeiten der Globalisierung soziale Ausgrenzung verhindern, wie konkret der Ethnisierung von Konflikten begegnen, wie sich über althergebrachte Gräben hinweg mit all denen solidarisieren und diese auch durch Sanktionen schützen, die sich als wehrhafte Demokraten zeigen? Es würde debattiert, wie auf allen Ebenen die Wege dahin zu ebnen sind durch das, was sich am besten mit civic education beschreiben lässt. Ein praktisch-politisches Programm wäre die Folge, das Schritt für Schritt die Themen der Zeit auf ihre Wirkung auf die Menschenrechte hin betrachtet, sich Innovation öffnet und übergreifend zu handeln imstande ist. Doch herrscht momentan allenthalben eine selbstgefällige Stimmung hektischer, bürokratischer Unvernunft, bei allen, die schnelle Rezepte fordern. Sie ist geprägt von einer kurzatmigen Strategie der Behauptung, die besagt: Erstens ist es ein Problem der anderen, nicht meines, aber wenn ich schon etwas machen soll, dann schneide ich es mir zweitens so zurecht, dass es in meine Zuständigkeit oder Möglichkeiten passt, und behaupte, das sei die Lösung. So kann ich dann drittens machen, was ich ohnehin immer mal wollte, viertens habe ich keine Schuld und rufe fünftens nach der Courage, die ich selbst nicht habe.

Dass sich in Deutschland bisher kaum zivile Gesellschaft entwickelte, mag an seinen obrigkeitshörigen Traditionen und dem Hang zum Segmentieren gelegen haben. Die scharfe Trennung von Staatsbürger und Person in Hunderten von Abhängigkeiten hat dazu beigetragen. Die beispiellose Barbarei des Massenmords an den Juden war auch möglich, weil ihr keine zivile Gesellschaft entgegentreten konnte, denn es gab sie nicht. Es gab bestenfalls das privat gehaltene Gewissen. Walser sprach in seiner berüchtigten Rede von der Individualisierung des Gewissens und von seiner Ethik des Wegschauens von den Übeln, an deren Behebung er nicht mitwirken könne. Damit hat er an Gewohntes angeknüpft und von der deutschen Elite vor kurzem noch viel Beifall erhalten. Der absurde Ruf der Politik nach Zivilcourage folgt dem und erniedrigt die wichtige Frage nach menschenrechtlicher und ziviler Moral dieser Tage zu einer heldischen Pose, an der sich der Einzelne und sein Gewissen messen lassen soll. Und der Appell enthält noch eines: Nicht von ungefähr bleibt die Zivilgesellschaft unerwähnt, denn sie wäre gefährlich. Sie wäre eine kollektive Form übergreifender Courage zu Haltungen und Handlungen, die in Deutschland ungewöhnlich sind und die Politik ernsthaft in Frage stellen würden. Eine wirklich zivile Gesellschaft braucht keine Queen of Pop, um hinzuschauen, um Gewissen öffentlich zu machen. Sie beginnt mit ehrlicher, uneitler Kommunikation von allen Seiten, die sich einlässt auf eine Kultur simpler Humanität. Doch das gilt wohl in Deutschland noch immer nicht als zivil, sondern vielmehr als lächerlich. Und doch: Der Vergeblichkeit ins Auge geblickt, könnte man es ja trotzdem versuchen.

ANETTA KAHANE

Hinweise:Der Druck von Moral und Vernunft hat gemeinsames Handeln über Interessenunterschiede hinweg ermöglichtMomentan herrscht jedoch allenthalben eine selbstgefällige Stimmung hektischer, bürokratischer Unvernunft