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: Das zweite Heft der „Hannoverschen Schriften“

Kritik des Ethnonationalismus

Die Welt war so schön einfach und überschaubar, als es den Kalten Krieg noch gab. Gute und Böse waren klar unterscheidbar – der Eiserne Vorhang ein identitätsstiftendes Symbol. Mit den Ereignissen von 1989/90 wurden bisher gültige und gern genutzte Kategorien zur Einordnung der Welt plötzlich nutzlos. Dafür tauchten neue Probleme auf. Noch atemlos von den weltverändernden Geschehnissen, stehen die Gesellschaftsanalytiker und Zeitgeistdiagnostiker nun ratlos vor Konflikten wie auf dem Balkan, ausgelöst nicht durch Blockkonfrationen, sondern neue Formen des Nationalismus.

Im Mittelpunkt stehen Nationalitätenkonflikte, Gebietsansprüche und Minderheitenprobleme. Das erinnert verblüffend an die Zeit kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich in Europa zahlreiche Nationalstaaten konstituierten, und ist doch anders: Ging es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts um die Konstituierung von Nationen als politischen Einheiten, stehen heute divergierende Vorstellungen kultureller Zugehörigkeit im Mittelpunkt. Ethnonationalismus als neue Ideologie und Alltagsreligion?

Dieser Frage widmet sich der Verlag Neue Kritik in seiner zweiten Ausgabe der „Hannoverschen Schriften“, die Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz herausgeben. In zehn Aufsätzen wollen die Autoren, Historiker, Soziologen, Amerikanisten und ein Psychoanalytiker, eine „Kritik des Ethnonationalismus“ formulieren und sehen sich dabei in der Tradition der kritischen Theorie, ohne jedoch deren bloße Fortschreibung vornehmen zu wollen. Theodor Adorno, der Vater dieser prominenten Gesellschaftstheorie, wertete bereits in seinen in den Dreißigerjahren im Exil entstandenen Studien zum „autoritären Charakter“ die Ablehnung als fremd wahrgenommener Gruppen und deren Abschiebung auf unterschiedliche Ebenen sozialer Organisation als Zeichen ethnozentrischer Ideologie.

Auch wenn es heute zum intellektuellen Chic gehört, der kritischen Theorie den Totenschein auszustellen, könnten sich nach Meinung der Autoren des Bandes ihre Kategorien und methodischen Ansätze bei der Bewertung des seit 1989 stattfindenden Veränderungsprozesses überall auf der Welt nach wie vor bewähren. Horkheimers These, die fortschreitende Erkenntnis sei identisch mit der Entzauberung der Welt, sei heute aktuell wie nie, wenn die aus der starren Welt der Blockkonfrontation entlassenen Individuen nach Orientierung suchen und diese in vermeintlich historisch legitimierten Ideen zu finden glauben.

Ethnos und Nationalität erfahren dabei eine fatale Wiederbelebung. Deutlich wird dies, wie der in Rom lehrende russische Soziologe Wictor Zaslawsky belegt, am Beispiel der ehemaligen sowjetischen Staaten. Es sei kein Zufall, dass „alle multiethnischen Staaten sowjetischen Typs, die klare ethnisch-territoriale Strukturen hatten, fast gleichzeitig entlang ethnisch-territorialer Linien zerfielen.“ Nur die staatliche Unterdrückung hatte es vermocht, die sowjetische Nationalitätenpolitik aufrechtzuerhalten.

Der heutige Ethnonationalismus bezieht sich jedoch nicht mehr auf einen konkreten souveränen Staat und führt damit zu der Frage, was eine Nation denn überhaupt ausmacht. Ihr geht Bruno Schoch in seinem Beitrag „Stichwort Nation – am Beispiel der Schweiz“ nach. Der Nationenbegriff ist hier vage und facettenreich. Der Schwierigkeit einer genauen Definition begegnete der Historiker Friedrich Meinicke noch mit der fragwürdigen Unterscheidung in Staatsnation und Kulturnation. Nation kann damit also einerseits ein institutionell gefestigtes Gebilde sein, das ein bestimmtes Territorium umfasst, als auch eine gesellschaftlich-kulturell definierte Vorstellung von Gemeinsamkeit, einer Idee, gespeist aus einem geteilten Vorrat an Werten und Traditionen.

Der europäische Ethnonationalismus findet sein Pendant in den Vereinigten Staaten, wo die Erkenntnis reift, dass der Traum vom Melting Pot endgültig ausgeträumt ist und stattdessen „ethnische Identitäten“ auch in materieller Hinsicht wichtig sind wie nie und damit auch instrumentalisiert werden. Dennoch handelt es sich bei den Vereinigten Staaten, so David A. Hollinger von der Universität Chicago in seinem Beitrag „Kultur, Hautfarbe und Nationalismus in aktuellen Debatten“, um das „erfolgreichste nationale Projekt der gesamten modernen Geschichte“. Es sei gelungen, die unterschiedlichsten ethnischen Gruppen durch Immigration, Versklavung und Emanzipation zu integrieren – dass dabei aber auch die systematische Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Sprache und Religion hingenommen wurde, wird in dieser Erfolgsbilanz nur zu gern verschwiegen.

Britta Waldschmidt-Nelson, München, die sich in ihrem Aufsatz mit der „Politischen Repräsentation der schwarzen Minderheit in den USA“ beschäftigt, bringt die Sache jedoch auf den Punkt: Die USA „sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch weit von der in Kings ,I have a dream‘-Rede beschriebenen Utopie entfernt“.

Wohin führt der neue Ethnonationalismus? Die Gefahr eines ethnischen Fundamentalismus lässt sich nicht leugnen, und auch im Alltag gewinnt die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen Gruppen zunehmend an Bedeutung. Das beste Beispiel dafür sind die umstrittenen „affirmative action“-Programme der US-Regierung, bei denen die Vergabe materieller Mittel abhängig von der Abstammung ist. In Zukunft also ethnischer Determinismus statt Voluntarismus?

Der Psychoanalytiker Paul Parin zeichnet ein düsteres Bild am Beispiel der baltischen Völker. Mittlerweile gelte es als „anthropologische Konstante“, dass deren Verhältnis von Hass und Vergeltung gekennzeichnet sei. Doch auch die Regierungen und Institutionen, die diesen Kreislauf durchbrechen wollen, seien von Rachegelüsten und Vergeltungsbedürfnissen nicht frei. Wäre dieses Prinzip in der menschlichen Natur verankert, würde das die Annahme der kritischen Theorie, dass menschliches Handeln doch nur in Zerstörung führe und alles Streben vergebens sei, bestätigen. Parin ist anderer Ansicht: „Doch gibt es menschliche Gemeinschaften, die Gefühle der Rache nicht kennen; und das Prinzip der Vergeltung kommt in manchen Rechtsordnungen nicht vor.“ Es gibt also doch noch Hoffnung.

SUSANNE KATZORKE

„Hannoversche Schriften 2“. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2000, 28 Mark