Der neue Krupp

Biotech statt Eisenbahnen: Für den Wechsel von alter zu neuer Ökonomie steht in Deutschland ein besonderer Name. Nun bringt Friedrich von Bohlen und Halbach seine Firma Lion Bioscience an die Börse. Die drei Worte, die Bohlen am häufigsten benutzt, sind Revolution, Verantwortung und Spaß

■  NEP – Neue Ökonomische Politik: Wir bleibenden Themen neue Wirtschaft, Arbeit, Geld, Globalisierung und Gerechtigkeit auf der Spur

von VOLKER WEIDERMANN

Als Alfred Krupp im April 1827 das Stahlunternehmen seines Vaters Friedrich übernahm, war er fünfzehn Jahre alt, und das Unternehmen stand kurz vor dem Bankrott. Friedrich Krupp hatte mit aller Macht als einer der ersten deutschen Unternehmer in den Zukunftsmarkt Gussstahl einsteigen wollen und dabei auf das falsche Pferd gesetzt: Der Mechaniker und Husarenrittmeister a. D. Friedrich Nicolai, den er sich als Teilhaber in die Firma holte, besaß zwar ein preußisches Patent für die Gussstahlbereitung, allein: Gussstahl herstellen konnte er nicht. Friedrich Krupp starb 39-jährig als wirtschaftlich und gesellschaftlich gescheiterte Existenz.

Sein Sohn Alfred, oder Alfried, wie er damals noch hieß, wurde nicht nur ein erfolgreicherer Gussstahlproduzent als sein Vater, er stieg auch auf anderen Gebieten mit viel mehr Glück in jeden Zukunftsmarkt ein, der sich ihm bot. Die Eisenbahn macht ihn groß. Je risikoreicher sich das frisch erwirtschaftete Kapital wieder investieren ließ, desto sicherer und schneller war der Jungunternehmer dabei. Alfred Krupp, dessen Betrieb bald zum „Weltsymbol der deutschen Industrie“ (Golo Mann) wurde, repräsentierte einen neuen Typus des Bürgers und des Unternehmers, der voller Verachtung auf den alten deutschen Kaufmann blickte, der bis dahin das Bild des deutschen Unternehmers bestimmt hatte. Lothar Gall schreibt in seiner im September im Siedler Verlag erscheinenden Firmengeschichte der Familie Krupp: „Aus dem kühn, aber auch kühl rechnenden Kaufmann wurde der immer wieder alles wagende Unternehmer. Das war in der Geschichte der Familie bereits vielfach angelegt, hatte sie gelegentlich schon an den Rand einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophe geführt.“ Bei den Krupps dominierten „eine gewisse Monomanie und eine Neigung, auf das ganz Neue, auf die ihrem Wesen nach unsicheren Märkte der Zukunft zu setzen“.

Ohne Krupp-Kapital

Friedrich von Bohlen und Halbach sitzt in dem holzgetäfelten Bistro Käfer im Frankfurter Flughafen und winkt ab: „Mein Leben ist mein Leben, und das beginnt 1962 und nicht vorher.“ Friedrich von Bohlen und Halbach ist ein Krupp. Als es vor drei Generationen mit Bertha Krupp nur weiblichen Nachwuchs gab und Bertha dann Gustav von Bohlen und Halbach heiratete, hat die Industriedynastie den Namen gewechselt. Friedrich von Bohlen ist der Urururenkel von Alfred Krupp. Und er ist Vorstandsvorsitzender eines der führenden Biotechnologie-Unternehmen Deutschlands. Vor dreieinhalb Jahren hat er Lion Bioscience ohne Krupp-Kapital, ausschließlich mit Bank-Krediten, zusammen mit sieben Wissenschaftlern in Heidelberg gegründet. Am Freitag geht das Unternehmen gleichzeitig in den USA und in Deutschland an die Börse. Lion Bioscience beschäftigt 240 Mitarbeiter, hat 1999 seinen Jahresumsatz auf 9,8 Millionen Euro verdoppelt, im ersten Quartal 2000 liegt die Umsatzsteigerung bislang bei 267 Prozent. Vom Börsengang erwartet das Unternehmen Einnahmen von bis zu 230 Millionen Euro. Parallelen zu seinem Vorfahren sieht von Bohlen kaum: „Das Einzige, was da ähnlich ist: 1827 war Stahl modern. 2000 ist eben Biotechnologie modern. Das ist aber auch schon die einzige Analogie.“

Und ein unsicherer Markt ist die Biotechnologie nach Bohlens Einschätzung natürlich auch nicht. Ein Markt der Zukunft. Ja. Der Markt der Zukunft schlechthin. Und Lion hat auf diesem rasch wachsenden Markt eine Lücke gefunden, die man im Moment noch quasi allein besetzt: Lion kombiniert Informationstechnologie (IT) mit einem Forschungs- und Entwicklungszweig in der Biotechnologie. „Ohne IT geht es nicht mehr“, sagt von Bohlen, „deshalb sind wir dabei, die Branche zu revolutionieren.“ Für die immer weiter wachsende Datenmenge in der Biotechnologie hat Lion ein Integrationssystem entwickelt, das nicht nur einen Zugriff auf eine außerordentlich große Zahl an medizinischen, biologischen, pharmakologischen und chemischen Datenbanken ermöglicht, sondern diese Daten miteinander verknüpft und für die unterschiedlichsten Bereiche nutzbar macht. Und diese Plattform, dieses Tool (SRS), bietet nur Lion, und „alle müssen durch diese Plattform“. Von Bohlen nennt es das „Windows für die Life-Science-Forschung.“ SRS liefert die Übersetzungshilfen im Daten-Esperanto der Biotechnologie. Von Bohlen sagt den schönen Satz: „Nicht Wissen ist Macht, sondern Wissen teilen ist Macht.“ Lion sind die Wissensteiler, die Wissensmitteiler unserer Zeit. Und wenn man bei dem im Zusammenhang mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms reichlich überstrapazierten Begriff von den „Buchstaben aus dem Buch des Lebens“ bleiben will, kann man sagen: Lion liefert die ersten kleinen Worte und bald vielleicht schon einen Satz aus diesem Buch.

Spezifische Molekülgruppe

Denn Lion Bioscience, die schon jetzt mit den größten Biotech-Firmen der Welt wie Celera, Glaxo Wellcome und Novartis zusammenarbeiten ( und mit Bayer wurde vor kurzem eine 100-Millionen-Kooperation vereinbart), setzt nicht nur auf den IT-Bereich, sondern wollen von ihrer „Datenveredelung“ selbst profitieren und haben sich auf die Erforschung einer Molekülgruppe, der so genannten Kernrezeptoren, spezialisiert, um eigene Arzneimittelkandidaten zu finden und später zu patentieren.

Aber das Ziel, das große Ziel von Lion Bioscience ist ein anderes, ein größeres: die so genannte individualisierte Diagnose. „Die individualisierte Diagnose wird die nächste Revolution im Gesundheitswesen sein. Das können wir so wollen oder nicht, das wird so kommen“, sagt von Bohlen. Bei ihr werden mit Hilfe einer Speichelprobe zwei Profilarten des Patienten erstellt, „Genexpressionen“ und „Eiweißstatus“. Diese werden mit weiteren Datensätzen verglichen: einer „Populationsdatenbank“, die das Normalprofil der ethnischen Gruppe des Patienten enthält, einer „Familiendatenbank“, mit den Daten der Familie des Patienten und der „Patientendatenbank“ mit den Daten des Patienten im gesunden Zustand. Und den „Kommunikationssuperhighway“, der die Ist-Daten mit den Datenbanken abgleicht, „den wollen wir liefern“, sagt Friedrich von Bohlen. Klar sei das auch ein gesetzgeberisches Problem, ein ethisches Problem sieht von Bohlen bei Erstellung und Anwendung solcher Datenbanken aber nicht: „Es ist gar keine Frage, dass das kommen muss, da es ethisch unverantwortlich wäre, wenn es nicht kommt.“ Und wann wird es so weit sein, mit der Revolution? „In Deutschland werden Sie hören: Hoffentlich nie. In den USA: Zehn Jahre. Ich sage: Innerhalb von fünf Jahren wird es die ersten Beispiele geben.“

Friedrich von Bohlen und Halbach ist 37 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Arbeitet, wie er sagt, wochentags von neun Uhr morgens bis ein Uhr nachts und an den Wochenenden meist den halben Tag. Das Arbeiten macht Spaß, auch den Mitarbeitern, wie er sagt. Jeder duzt jeden. Im einem Unternehmen dürfe „der Fun-Faktor“ nicht zu kurz kommen. Friedrich von Bohlen ist schlank und groß, in einem etwas nachlässigen Schick gekleidet und von einer milden Entschlossenheit. Er kommt gerade von einer einwöchigen Mammuttour durch den Westen der USA, wo er eine Vielzahl von Investorengruppen im Vorfeld des Börsengangs von der Idee Lion überzeugen musste. Von Abspannung keine Spur: „Ich bin jemand, der intensiv lebt“, sagt er. „Alles, was ich mache, mache ich 150-prozentig. Das Leben ist sehr kurz, und wenn ich schon was mache, dann mache ich es richtig.“

Das hat er sich auch schon gesagt, als die Bundeswehr anstand. Verweigern kam für ihn nicht in Frage: „Der Wehrdienst ist ein Dienst, also mache ich den“, sagte er sich. Und nach dem Lebensmotto „Wenn schon, dann richtig“, ging er zu den Fallschirmjägern, wo er sich zusätzlich noch als Einzelkämpfer ausbilden ließ: „Da ist wenigstens was los, Action.“ Und dort, allein, im Feindesland, vier Wochen lang auf Brot und Wasser gesetzt, „im Prinzip chancenlos“, da hat Friedrich von Bohlen viel fürs Leben gelernt: „Ich weiß heute, wie ich in Extremsituationen reagiere, und das gibt mir unglaubliches Selbstvertrauen, weil ich weiß: Mich kann eigentlich keiner ausmüllern. Wenn es sein muss, bleibe ich einfach zwei Stunden länger sitzen.“

Auch Spaß, klar

Die drei Worte, die von Bohlen im Gespräch am häufigsten benutzt sind: Revolution, Verantwortung und Spaß. „Spaß“ wird jedoch immer eher mit schlechtem Gewissen angehängt an die Sätze, die von seiner Verantwortung handeln. Und da kommt dann später im Gespräch auch immer häufiger die Familiengeschichte ins Spiel: „Im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern, die einfach Partytime gemacht haben, habe ich gesagt: Nee, du hast auch eine Verantwortung. Mit dem Namen, da erwarten die Leute auch was von dir. Ja, Spaß sollst du auch haben, klar.“ Aber erst kommt der Dienst. Denn die Aufgaben sind groß, die Verantwortung ist es auch. Denn mit den neuen Technologien, den neuen technischen Möglichkeiten „stehen wir vor revolutionären Umbrüchen, die quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Schichten gehen“, sagt von Bohlen. Das Links-rechts-Schema sei längst überkommen, und Politiker, die sich bei der Steuerreform wegen einem Prozent mehr oder weniger die Köpfe einschlagen, hätten von der Zukunft überhaupt nichts verstanden. Die Zukunft ist grenzenlos, lernen muss jeder von jedem und, sagt der Star-Wars- und Clockwork-Orange-Fan, der als seine Lieblingsbücher „Per Anhalter durch die Galaxis“ und die Gedichte Hölderlins nennt: „Trash-Kultur und Intellektualität, Seifenopern und Revolutionen stehen in keinem Widerspruch mehr zueinander. Im Gegenteil: Die Trash-Kultur triggert revolutionäre Elemente, weil sie Fantasie, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein fördert. Ein Cinemaxx ist wichtiger als Bayreuth, Jim Morrison wirkt stärker emotionalisierend als Mozart.“ Und die Krupps sind auch nicht mehr die, die sie mal waren.