JOSEPH LIEBERMAN IST DER VIZEKANDIDAT DER DEMOKRATEN
: Mutiger Schritt

Die Wahl des Vizepräsidenten ist einer der Drahtseilakte amerikanischer Politik, bei dem es darauf ankommt, nicht abzustürzen. Umfragen zeigen, dass sich die meisten Amerikaner nicht dafür interessieren, wer Vizepräsident ist. Wichtig ist seine Wahl gleichwohl, weil sie etwas über den Präsidentschaftskandidaten selbst sagt. Der Vize ist so etwas wie das Alter Ego des Kandidaten. Die Wahl des Vize gilt als erste Entscheidung des potenziellen Präsidenten und wird entsprechend bewertet. An diesen Anforderungen gemessen, hat Gore eine gute Wahl getroffen.

Mit der Wahl Joseph Liebermans hat Gore getan, was Kommentatoren für einen mutigen Schritt halten. Zwar hat er keine Frau und keinen Afroamerikaner zum Partner genommen, wohl aber einen Juden. Gore demonstriert damit, dass er nicht alles tun wird, nur um zu gewinnen, sondern bereit ist, ein Risiko einzugehen – und einen Juden im Gespann zu haben, wird noch immer als Risiko gewertet. Mit der Wahl des Vizes markiert der Kandidat auch einen Kontrast zum Gegner. Bush hat mit seiner Slogan vom „mitfühlenden Konservatismus“ eine Formel gefunden, mit der er die christliche Rechte in die Republikanische Partei einbinden kann. Mit der Wahl eines strenggläubigen Juden zeigt Gore, dass auch er Moral und Gottesfurcht in seinem Programm hat, aber eine Moral, die nicht angekränkelt ist von jenem selbstgerechten Eiferertum, mit dem sich die christliche Rechte in die Isolation manövriert hatte.

In den letzten 50 Jahren ist andererseits eine konservative jüdische Tradition entstanden, die besagt, dass die Interessen der Juden Amerikas in der Identifikation mit den reichen amerikanischen Eliten liegen. Lieberman steht für diese neue Tradition. Demokrat, der er ist, hat er häufig mit den Republikanern votiert. So hat er gegen Clintons eigentliches Lebenswerk, die große Reform des Krankenversicherungswesens, gestimmt. Stand Judentum bisher in Amerika für progressive Anliegen wie Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit, wird sich dieses Image durch Lieberman nachhaltig ändern. PETER TAUTFEST