„Die Strategie ist nicht haltbar“

Pinochet kann nicht mehr behaupten, von den Gräueltaten nichts gewusst zu haben: Strafrechtsexperte Kai Ambos über die Aufhebung der Immunität und das veränderte Verständnis von Amnestie in Chile

Kai Ambos ist Mitherausgeber des Buches „Der Fall Pinochet(s)“ und arbeitet als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.

 taz: Mit der jetzt erfolgten Aufhebung der Immunität Pinochets ist der Ex-Diktator noch lange nicht verurteilt. Wird hier nicht ein kleiner Verfahrensschritt ziemlich überschätzt?

Kai Ambos: Nein, denn das Oberste Gericht Chiles hat sehr deutliche Ausführungen zu den Vorwürfen gegen Pinochet gemacht. So gehen die Richter davon aus, dass Pinochet als Befehlshaber der Streitkräfte die „Todeskarawane“ angeordnet hat, in deren Rahmen 1973 zahlreiche Oppositionelle durch Armeeangehörige ermordet wurden. Außerdem wird festgestellt, dass Pinochet von den Verbrechen wusste und die unmittelbaren Täter nicht bestrafte, sondern teilweise sogar beförderte.

Ist die Aufhebung der Immunität also eine Art von Vorverurteilung?

Zumindest dürfte die Strategie der Verteidigung, wonach Pinochet mit all den Gräueltaten nichts zu tun hatte, nicht mehr haltbar sein.

Wie stark war eigentlich der Schutz Pinochets durch die Immunität?

Pinochet genoss Immunität aufgrund seines Amtes als Senator auf Lebenszeit. Auch in anderen Staaten genießen Abgeordnete Immunität, die aber bei stichhaltigen strafrechtlichen Vorwürfen aufgehoben werden kann. In Chile gilt im Prinzip nichts anderes. Nur war früher nicht damit zu rechnen, dass die Justiz es tatsächlich wagen würde, die Immunität aufzuheben.

Die Immunität ist aufgehoben, das Amnestiegesetz gilt aber noch . . .

Das 1978 beschlossene Amnestiegesetz stellt die bis dahin erfolgten Menschenrechtsverletzungen der chilenischen Militärs straflos. Auf den ersten Blick wäre es also auch auf die Todeskarawane von 1973 anwendbar. Allerdings geht man im Fall der 19 Verschwundenen von einem Delikt aus, das auch nach 1978 noch andauerte und jetzt als „Entführung“ verfolgt wird.

Was wäre, wenn Pinochet zugeben würde, dass auch diese Verschwundenen getötet wurden? Würde dann auch für diese Fälle die Amnestie gelten?

Sollte Pinochet ein solches Geständnis ablegen, so wäre das für die Opfer schon sehr hilfreich. Aber strafrechtliche Ermittlungen könnte Pinochet damit nicht vermeiden. In der chilenischen Rechtsprechung hat sich nämlich das Verständnis der Amnestie in den letzten Jahren stark verändert. Man geht inzwischen davon aus, dass der Sachverhalt komplett ermittelt werden muss, bevor die Amnestie Anwendung finden kann. Dem Strafverfahren kommt damit eine ähnliche Aufgabe zu wie etwa der Wahrheitskommission in Südafrika.

Wird sich das Verfahren auf die 19 Verschwundenen konzentrieren ?

Die Opferverbände werden versuchen, das Verfahren zu erweitern. Es ist umstritten, ob die Immunität für jeden zusätzlichen Fall neu aufgehoben werden muss.

Warum kann es bis zum eigentlichen Prozess noch Jahre dauern?

In Chile spielt das Ermittlungsverfahren eine viel größere Rolle als bei uns, weil im gerichtlichen Hauptverfahren ohne mündliche Verhandlung nur noch nach Aktenlage entschieden wird. Außerdem muss noch die Frage der Verhandlungsfähigkeit geklärt werden.

Wäre die jüngste Entwicklung auch ohne die Verhaftung Pinochets in England möglich gewesen?

Nein, Pinochets Jahr in England hat die Situation in Chile stark verändert. Es entstand Druck, nun selbst etwas zu tun. Die Entscheidung der Briten, Pinochet aus gesundheitlichen Gründen nach Chile zurückreisen zu lassen, habe ich deshalb nie als Niederlage der Opfer angesehen. INTERVIEW: CHRISTIAN RATH