: Recht fürs Volk, aber keine Macht
Die Stimmung in Chile mag sich geändert haben, die Machtverhältnisse haben es nicht. Ein Prozess gegen Pinochet ist noch immer unwahrscheinlich
aus Buenos Aires INGO MALCHER
Die Welt scheint wieder in Ordnung. Augusto Pinochet wurde die Immunität entzogen, und damit ist der Weg frei, ihn vor Gericht zu stellen. Die Mühlen des bürgerlichen Staates mahlen zwar langsam, aber sie mahlen. Auch ein Pinochet ist davor nicht sicher. Die Institutionen funktionieren also wieder in Chile, dem Land, in dem die Militärs auch zehn Jahre nach der Diktatur (1973-1990) noch übermächtig schienen.
Pinochet hat nach der Rückkehr aus London Anfang dieses Jahres tatsächlich ein anderes Chile vorgefunden als jenes, das er 1998 verlassen hatte. Es wird von „Verbrechen“ gesprochen, von „Verschwundenen“ und „Morden“ ist öffentlich die Rede. Und der Unantastbare sitzt auf der symbolischen Anklagebank.
Doch trotz des Stimmungswandels in der Gesellschaft haben sich die Institutionen in Chile nicht verändert. Noch immer wird dem „General“ Respekt gezollt, noch immer gibt es den Nationalen Sicherheitsrat, ein Gremium, in dem Militärs und Polizisten sitzen, die durch keine Stimme demokratisch legitimiert wurden. Noch immer gibt es berufene Senatoren. Noch immer sind die Mörder der Diktatur per Gesetz amnestiert. Noch immer ist das Militär eine starker Machtfaktor im Staat.
Grenzenlose Überheblichkeit und unbeirrbare Ignoranz zeichnen die Generäle aus. So machte der Chef der Streitkräfte, General Ricardo Izurieta, nach der Gerichtsentscheidung Pinochet demonstrativ seine Aufwartung: „Ich weiß, was ich zu tun habe, und es ist nicht Sache irgendeiner Autorität, mir vorzuschreiben, wie ich mich zu verhalten habe“, erklärte Izurieta an die Adresse von Präsident Ricardo Lagos gerichtet. Die staatlichen Institutionen sind dieselben geblieben. In der Machtverteilung hat sich mit der Immunitätsaufhebung nichts geändert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass im Oktober 1988, als Pinochet nach einem Volksentscheid seine Macht abgeben musste, zwischen Opposition und Regierung ein Pakt geschlossen wurde: Wahlen für die Opposition gegen Straffreiheit für die Militärs. Militär und andere Anhänger Pinochets sehen sich schließlich als Opfer einer linken Verschwörung, angezettelt vom sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos. Dabei haben sie doch nur das Land vor dem Kommunismus gerettet.
Doch nicht nur die Machtverhältnisse, sondern auch die unklaren juristischen Verfahren machen einen Prozess gegen Pinochet schwer vorstellbar. Laut Gesetz muss er zum Psychiater, da er im Falle von Geistesschwäche keinen Prozess fürchten muss. Pinochet hat bereits verlauten lassen, ein psychiatrisches Gutachten komme nicht in Frage. Es ist auch gut vorstellbar, dass seine Anwälte dem Richter ein Attest vorlegen könnten, wonach Pinochet zu alt und zu gebrechlich sei, um einem Prozess beizuwohnen. Laut chilenischer Strafprozessordnung ist dies zwar kein Hinderungsgrund für ein Verfahren, aber rechtsstaatlich auch nicht vorbildlich.
Ein weiteres Problem ist seine aufgehobene Immunität. Der Oberste Gerichtshof hat sie zunächst für den Fall der Todeskarawane aufgehoben. Dies war eine Schreckenstruppe, die im Oktober 1973 von Stadt zu Stadt zog, um Regimegegner zu verschleppen und zu ermorden. Von 19 der damals Getöteten fehlt bis heute jede Spur. Nach Ansicht seiner Anwälte kann Pinochet daher nur in diesem Fall der Prozess gemacht werden. Eine weitere Unbekannte ist die Militärjustiz. Da Pinochet als ehemaliger Chef der Streitkräfte angeklagt wird, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass ein Militärgericht in das Verfahren eingreifen und es übernehmen könnte.
Der chilenische Präsident, der Sozialist Lagos, ist ein Pragmatiker. Kurz nach seinem Amtsantritt hat er eine Kronzeugenregelung für Militärs beschlossen. Danach bleiben diese straffrei, wenn sie zur Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen beitragen. Um einen Konflikt mit dem Militär zu vermeiden, ist für Lagos durchaus denkbar, einen politischen Kuhhandel einzugehen. Schließlich mehren sich die Stimmen, die sagen, eine symbolische Bestrafung Pinochets reiche aus.
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