: Papierboote auf hoher See
Heilung durch Bach: Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse, in Frankreich schon als „Beckett des 21. Jahrhunderts“ gefeiert, wird in der nächsten Spielzeit auch auf deutschen Bühnen zu den meistgespielten Newcomern zählen. Seine Stücke entsprechen dem neuen Bedürfnis nach lyrischer Kargheit
von CHRISTIANE KÜHL
Es war auf diesem langen Flug. Jon Fosse hatte sich gelangweilt. Nicht, dass er besonders oft fliegen würde, gar nicht: Am liebsten bleibt er zu Hause in Norwegen, in Bergen, wo er mit seiner Frau und den Kindern lebt, oder in Strandebarm am Fjord, wo er aufgewachsen ist und es viel regnet. Jon Fosse mag den Regen. Fliegen mag er nicht. Weil aber ein moderner Schriftsteller manchmal nicht umhin kommt, ließ er sich also vom Steward einen Kopfhörer geben. „Auf einmal war da diese wunderbare, ganz wunderbare Musik. Ein Violinkonzert! Bach!“ Über und über hat er es gehört, zu Hause hat er sich die CD gekauft und dann mehr CDs, alle von Bach. Jon Fosse macht eine andächtige Bewegung mit seinem Bierglas. „Diese Klarheit! Von da an habe ich wieder Musik gehört.“ Ein Herr am Nebentisch des Salzburger Cafés Bazar nickt zustimmend. „Naja, also ...“, murmelt Fosse entschuldigend, „das ist nur so eine kleine, blöde Geschichte, wie ich sie oft erzähle.“
Jon Fosse erzählt keine kleinen, blöden Geschichten. Vor allem schreibt er solche nicht. Glaubt man Le Monde, handelt es sich bei dem norwegischen Schriftsteller um den Beckett des 21. Jahrhunderts. Um einen gleichsam radikalisierten Beckett, der definitiv alle Psychologie über Bord geworfen hat und rein beschreibende, phänomenologische Stücke verfasst. In Paris hat man sogar schon ein Label dafür: „Théâtre Husserl“. Mit Claude Régys Inszenierung von Fosses „Da kommt noch wer“ sah die französische Zeitung vergangenen Herbst „den Zenit der Theaterkunst“ erreicht.
Ähnlich große Hoffnungen setzen die deutschen Theater in den Autor. Während dieser Tage in Salzburg mit Thomas Ostermeiers Inszenierung von „Der Name“ erstmals ein Fosse auf Deutsch zu sehen ist, zählt er bereits in der nächsten Spielzeit zu den meistgespielten Newcomern auf dem hiesigen Markt. In Berlin, Düsseldorf, Bremen, Freiburg und Bonn wird ebenfalls „Der Name“ gezeigt werden, Michael Talke inszeniert in Hamburg „Das Kind“, Falk Richter in Zürich „Die Nacht singt ihr Lied“, und um die Aufführungsrechte von drei weiteren Fosse-Dramen streiten sich bereits diverse Theater. Eine erstaunlich plötzliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Rowohlt den Ibsen-Preisträger bereits seit 1997 im Programm hat. Damals aber waren britische Action-Dramen angesagt. Jetzt scheint es ein Bedürfnis nach neuer lyrischer Kargheit zu geben.
Fosses Stücke beschreiben kleine, geschlossene Universen, bevölkert von wenigen Menschen, die verloren wie Papierboote auf hoher See schwanken. Zur Stabilisierung tauschen sie Worte aus, aber diese Konversationskonstruktionen wirken sehr provisorisch. Egal, ob es sich um eins der vielen „Ja, ja, ja“ handelt oder um mäandernde Wortschleifen: „Jetzt werden wir / allein beieinander sein / allein miteinander / allein“.Während den Zuschauer wachsende Klaustrophobie ergreift, versuchen die Protagonisten im Gegenteil panisch, sich immer hermetischer vom Draußen abzuschotten. Nur wenige wollen raus. „Können wir jetzt gehen?“, fragt dann beispielsweise eine Frau, ein Mann antwortet: „Ja“, und die Regieanweisung sagt „(bleibt sitzen)“. Über die Geschichte dieser Menschen, ihr Leben außerhalb des dargestellten Augenblicks erfahren wir nichts. Wer sie sind, lässt sich allein über ihre Beziehungen untereinander erschließen; Beziehungen, die sich nicht entwickeln, sondern die eigenen Muster reproduzieren. Vor allem verbal. Im Wesentlichen, dieser Eindruck drängt sich auf, hat der Mensch im Leben ein bis drei Sätze mitzuteilen – alle weiteren Aussagen sind deren bloße, mehr oder weniger geschickte Variation.
Jon Fosse lächelt. Es gefällt ihm, wenn sich jemand in seinen Stücken verliert. Mit dem Akt des Schreibens haben diese Interpretationen aber nur bedingt zu tun. „Es geht um Rhythmus, um den Fluss, die Art wie er sich ändert. Die Wiederholungen haben mit Komposition zu tun, nicht damit, wie ich mir Bewusstsein vorstelle. Wobei – das klingt jetzt sicher wieder komisch –, letztendlich komponieren wir alle. Aus einer Grundbefindlichkeit formen wir die verschiedenen Weisen unseres Seins.“ Die klaustrophobische Stimmung seiner Dramen führt er hingegen weniger auf die eigene Befindlichkeit als auf die Disposition des Theaters zurück: „Die Theatersituation an sich hat doch etwas Klaustrophobisches – du sitzt in der Mitte einer Reihe eines dunklen, geschlossenen Raums. Diese Stimmung übertrage ich beim Schreiben wohl unbewusst auf die Situation des Stücks.“
Der 41-Jährige gehört zu der nicht geringen Zahl von Dramatikern, die sich im Theater verächtlich langweilten – bis sie selbst dafür arbeiten. Wie es dazu kam, erklärt er beschämt mit einem „ganz blöden Grund: Ich war pleite“. Fast zehn Jahre hatte er Anfang der Neunziger bereits Lyrik und Romane verfasst, als er endlich auf eine der vielen Anfragen einging, für die Bühne zu schreiben. Stilistisch lag das nahe: Fosses Romane spielen alle in einem kleinen Zeitraum an einem begrenzten Ort mit wenigen Figuren. Statt epischer Breite bestimmt sie monologische Konzentration. Das Schreiben für die Bühne empfand der literarische Phänomenologe dann als unverhofft großartig: Den Dialogen der Figuren musste er nun gar nichts mehr hinzufügen. So entstand „Da kommt noch wer“, und in Folge zehn weitere Dramen.
Das war zu einer Zeit, als Fosse keine Musik ertragen konnte. Als Jugendlicher hatte er „extrem extensiv Gitarre gespielt“, aber von einem auf den anderen Tag aufgehört, um stattdessen in die Tastatur der Schreibmaschine zu hauen. „Ich konnte lange keine Musik mehr aushalten, weil sie mich so emotional gemacht hat. Ich wollte dann immer trinken. Ein fürchterlicher Zustand.“ Dann zitiert Fosse seinen Landsmann Lars Norén: „Sentimentalitäten“, sagt er grinsend, „sind das Böse auf Urlaub.“
Erst Johann Sebastian Bach also konnte ihn von dieser Abstinenz heilen. Nicht, weil Fosse seine Kompositionen für gefühllos hält; aber weil sie in ihrer strukturellen Klarheit keine großen Gefühle auslösten. In diesem Punkt – und den repetitiven Variationen – berühren sich seine Stücke mit denen des spätbarocken Komponisten sogar. Fosses Minimalismus verhindert Gefühlsduselei gleichwie Katharsis. Was nicht bedeutet, dass nicht auch seine Stücke von einer Grundstimmung beherrscht würden. „Alle meine Figuren“, sagt Fosse, der langsam unruhig wird, weil in seiner Ecke des Cafés Bazars das Rauchen verboten ist, „haben diese kindliche Angst des Verlassenwerdens. Das ist das Bild: ein kleines Baby ganz allein in der Welt. Ohne Sprache. Einfach hineingezwungen.“
Die Tragik dieser Figuren ist, dass das Älterwerden sie weder eine Sprache noch Sicherheit finden lässt. In „Der Name“ ist das exemplarisch beschrieben: Während eines Familiennachmittags minütlich leerer laufender Floskeln wiegt am schwersten, dass der Freund der hochschwangeren Tochter keinen Namen für das gemeinsame Baby finden will. Man kann es ihm nicht wirklich verdenken – sein eigener interessiert hier schließlich auch kein Schwein.
Jon Fosse muss jetzt eine rauchen. „Ich bin also Dramatiker ganz gegen meine Absichten geworden“, verabschiedet er sich in aller skandinavischen Bescheidenheit. „So ist das Leben: blöde.“ Dann steht er auf und schielt sehnsüchtig nach draußen. Salzburg ist ihm in nur zwei Tagen zum Freund geworden. Es gießt in Strömen.
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